Kapitel 7: Das Echo unter den Wellen

Im Morgengrauen herrschte im Hafen Stille, eine Stille, in der das Knarren der Taue und das Plätschern der Wellen wie das Flüstern eines Lebewesens klangen. Die Aurora’s Wake lag festgemacht am Kai und wiegte sich sanft in der Strömung. Ihre Holzbordwände trugen die Spuren des Kampfes – geflickte Einschusslöcher, abgekratzte Farbe und eine schwache Brandspur am Bug –, Narben der Nacht, die nicht verblassen wollten.
Ethan stand allein an Deck, eine Tasse Kaffee in der Hand, und beobachtete, wie der Nebel vom Meer heraufzog. Die Luft war kühl, schwer vom Salz und der Verheißung von Regen. Er hatte nicht geschlafen. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, sah er den brennenden Trawler wieder, dessen Leuchtrakete rot aufleuchtete wie eine sterbende Sonne.
Hinter ihm waren Schritte auf dem Kai zu hören. Liams Stimme war leise, noch rau vor Erschöpfung. „Du bist früh auf.“
„Hab nicht geschlafen“, sagte Ethan, ohne sich umzudrehen.
„Ich auch nicht.“ Liam gesellte sich zu ihm ans Geländer und umklammerte seinen Pappbecher. Sein Haar war noch feucht vom Nebel, seine Augen lagen im Schatten, aber er war neugierig. „Sie haben mich heute Morgen wieder zum Verhör vorgeladen.“
Ethan runzelte die Stirn. „Wer?“
„Diese Leute vom Heimatschutz. Kline und Rhodes. Sie wollten mehr über die Ausrüstung wissen, die ich mitgebracht hatte – woran ich forschte, wer die Expedition finanziert hatte, solche Sachen.“
Ethan nahm einen langsamen Schluck und kniff die Augen zusammen. „Sie wollen mich nur austricksen.“
„Das dachte ich mir. Aber es ist seltsam, Ethan.“ Liam zögerte. „Sie haben ausdrücklich gefragt, ob eines meiner Instrumente Signale aussenden kann. Keine Daten – Signale. Wie Peilsender.“
Ethan erstarrte. Einen Moment lang hörte er nur die Möwen, die über ihm kreisten. Dann sagte er leise: „Und könnten sie das?“
Liam schüttelte schnell den Kopf. „Nein! Zumindest nicht absichtlich. Die Tracker in den Sensorkapseln dienen der Standortaufzeichnung – sie senden nur dann ein Signal an meinen Laptop, wenn wir uns in Reichweite befinden. Aber sie bohrten immer wieder nach, wer die Komponenten hergestellt hat. Ein Teil der Technologie wurde über ein privates Labor bezogen.“
Ethan drehte sich abrupt um. „Welches Labor?“
„Irgendwas mit Thalassa Marine Systems. Die wurden mir von meinem Uni-Partner empfohlen.“ Liam runzelte die Stirn und rieb sich die Schläfe. „Warum? Glaubst du, das spielt eine Rolle?“
Ethan antwortete nicht sofort. Er stellte seinen Becher ab und begann, auf dem Deck auf und ab zu gehen. „Den Namen habe ich schon mal gehört. Die haben früher Überwachungstechnik für die Marine hergestellt – bevor sie privatisiert wurden.“
Liam blinzelte. „Überwachung? Du meinst … Ortungssysteme in Militärqualität?“
„Genau“, sagte Ethan grimmig. „Wenn deine Ausrüstung deren Komponenten enthielt, ist es möglich, dass sie mehr als nur Forschungsdaten gesendet hat. So könnten uns die Piraten gefunden haben.“
Liams Herz sank. „Glaubst du, sie haben mich verfolgt?“
„Nicht dich“, korrigierte Ethan. „Deine Ausrüstung.“
Ein lautes Klopfen am Rumpf unterbrach sie. Beide drehten sich um, als ein uniformierter Offizier an Bord kletterte – ein junger Leutnant der Küstenwache, die Mütze tief ins Gesicht gezogen.
„Kapitän Calder“, sagte er. „Agent Kline hat mich gebeten, etwas persönlich zu überbringen. Es stammt aus dem forensischen Bericht von Ihrem Boot.“
Er reichte Ethan einen versiegelten Plastikbeutel mit Beweismitteln. Darin befand sich eine kleine, handtellergroße Metallscheibe – versengt, aber intakt.
Ethan runzelte die Stirn. „Was ist das?“
„Es steckte im Gehäuse des Haupttransponders fest“, erklärte der Offizier. „Es gehörte nicht zur Originalbaugruppe. Die Forensiker sagen, es ist ein Signalrelais – ein Kurzstrecken-Burst-Sender. Das Frequenzband passt nicht zu zivilen Geräten.“ Liam wurde ganz flau im Magen. „Das … das ist von meiner Ausrüstung.“ Ethan drehte den Beutel um, sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. „Wer auch immer das hier platziert hat, wollte nicht, dass es gefunden wird.“
Der Offizier nickte. „Agent Kline sagte, er wolle das heute später mit Ihnen beiden besprechen. Er nannte es eine Angelegenheit von nationalem Interesse.“
Ethan lächelte bitter. „Das ist Regierungsjargon für: Wir haben Mist gebaut, und jetzt ist es Ihr Problem.“
Als der Offizier gegangen war, herrschte wieder Stille an Deck. Liam starrte die Scheibe an, als wäre sie eine scharfe Granate. „Ethan, das bedeutet …“
„Es bedeutet, dass jemand genau wusste, wo wir waren“, sagte Ethan emotionslos. „Und sie wollten, dass diese Piraten uns finden.“
Liams Stimme zitterte. „Aber warum? Was könnten sie nur von mir wollen?“
Ethans Blick verfinsterte sich. „Vielleicht nicht Sie. Vielleicht Ihre Forschung.“
Stunden später saßen die beiden Männer Agent Kline wieder gegenüber, diesmal in den sterilen Räumlichkeiten eines Büros der Bundesbehörde mit Blick auf die Bucht. Der Regen hatte eingesetzt – stetig, rhythmisch –, klopfte wie ungeduldige Finger gegen das Fenster.
Kline legte die Metallscheibe zwischen sie auf den Tisch. „Dieses Gerät sendete alle dreißig Minuten verschlüsselte Datenpakete, und zwar drei Tage vor Ihrer Abreise. Das Signal wurde über eine Satellitenverbindung im Indischen Ozean geleitet – das heißt, der Empfänger befand sich weit entfernt von dieser Küste.“ Liam starrte ihn fassungslos an. „Drei Tage vorher? Das ist unmöglich. Wir sind doch erst abgefahren, als …“
„Bis Sie Ihre Systeme aktiviert haben“, beendete Kline den Satz. „Dadurch wurde das Relais ausgelöst. Wir haben die Übertragungs-ID überprüft. Sie ist auf eine Tochtergesellschaft von Thalassa Marine Systems registriert – eine Briefkastenfirma mit Sitz in Singapur.“
Ethan beugte sich vor. „Und lassen Sie mich raten: Keine richtige Adresse, keine Kontaktdaten, keine Aufzeichnungen.“
Kline nickte grimmig. „Richtig.“
Liams Hände zitterten. „Sie sagen also, ich wurde reingelegt. Ausgenutzt.“
„Sieht so aus“, sagte Kline. „Wer auch immer das an Ihrer Ausrüstung angebracht hat, wollte Ihre Bewegungen verfolgen – vielleicht Ihre Daten abfangen, vielleicht etwas anderes testen. Aber als Piraten ins Spiel kamen … das war nicht Teil des Plans. Es wurde chaotisch.“
Ethans Stimme war leise. „Und deswegen sind Menschen gestorben.“
Kline stritt es nicht ab. „Wir untersuchen den Zusammenhang. Aber ich will ehrlich sein – das geht über unsere Grenzen hinaus. Ihr zwei müsst darüber Stillschweigen bewahren. Keine Presse, keine Stellungnahmen, keine Berichte. Verstanden?“
Liam starrte ihn ungläubig an. „Du sagst uns, wir sollen schweigen? Nach dem, was passiert ist?“
Klines Blick war ruhig. „Ich sage euch, ihr sollt am Leben bleiben.“
Sie verließen schweigend das Büro. Der Regen war stärker geworden, der Himmel trüb und stahlgrau. Der Steg glänzte glatt unter ihren Stiefeln. Ethan ging voran, die Schultern angespannt, die Gedanken schon in rasenden Gedanken. Liam folgte ihm, seine Gedanken wirbelten durcheinander.
Als sie die Aurora’s Wake erreichten, blieb Ethan plötzlich stehen und drehte sich zu ihm um. „Du bist hier nicht sicher.“
Liam blinzelte. „Was?“
„Wenn Thalassa involviert ist, wenn deine Forschungsdaten ihnen etwas bedeutet haben, werden sie ihre Spuren verwischen wollen. Das heißt, alle losen Enden zu verknoten – dich, mich, dieses Boot.“
Liams Puls beschleunigte sich. „Du glaubst, sie würden …“
„Ich weiß, dass sie es würden“, sagte Ethan. „Das ist nicht das erste Mal, dass ich Leute nach so etwas verschwinden sehe.“ Liams Atem ging stoßweise. „Was sollen wir also tun?“ Ethan blickte auf das dunkler werdende Meer hinaus, über das der Regen wie Glas schnitt. „Wir tun etwas Unerwartetes.“
Liam folgte seinem Blick. „Du denkst doch nicht etwa daran, wieder rauszugehen?“
Ethans Kiefer verkrampfte sich. „Genau das denke ich.“
„Ethan, das ist Wahnsinn …“
„Nein“, sagte Ethan mit kaltem, festem Blick. „Es geht ums Überleben. Sie glauben, sie beherrschen die Karte. Aber das Meer gehört ihnen nicht. Es gehört denen, die es verstehen.“
Liam zögerte. „Du meinst uns.“
Ethan nickte. „Wenn wir herausfinden können, woher das Signal kommt – es verfolgen –, wissen wir, wer dahintersteckt.“ Liam atmete aus. „Und wenn sie uns zuerst finden?“ Ethan lächelte schwach und grimmig. „Dann sorgen wir dafür, dass der Ozean sie holt, bevor er uns holt.“
In jener Nacht, unter dem Schleier aus Regen und Nebel, glitt die Aurora’s Wake lautlos aus dem Hafen. Ihr geflickter Rumpf durchschnitt das schwarze Wasser mit stiller Entschlossenheit. An Deck stand Ethan am Steuerrad, sein Gesicht vom sanften roten Schein des Navigationslichts erhellt. Liam stand neben ihm, Angst und Entschlossenheit in seiner Brust vereint. „Wir schaffen das“, sagte er leise, als wollte er sich selbst überzeugen. Ethans Stimme war fest. „Wir schaffen das.“ Hinter ihnen verschwand die Küste im Schatten. Vor ihnen erstreckte sich der Ozean – weit, unergründlich und wartend.