Kapitel 4: Die Vermisstenakte

Am Tag nach ihrem Besuch bei Helen Armitage ging Margaret das Bild der alten Frau nicht aus dem Kopf, die in ihrer Tür stand und die verblassten Fotos wie heilig umklammerte. Helens Stimme hallte in ihrem Kopf wider – leise, zitternd und schwer von vierzig Jahren Trauer.
Er war unruhig. Er sagte, er wolle nach Norden.
Norden. Dieses Wort ging Margaret immer wieder durch den Kopf, während sie an ihrem kleinen Küchentisch saß, ihr Laptop sanft im Morgenlicht leuchtend. Sie wusste, was sie als Nächstes tun musste. Die offizielle Akte – die, die die Welt vergessen hatte – würde das nächste Puzzleteil enthalten. Wenn David die Stadt in jener Nacht wirklich verlassen hatte, musste es irgendwo eine Spur geben, einen Nachweis seiner Abreise.
Margaret gab „David Armitage Vermisstenakte 1985“ in die Suchleiste ein. Dutzende Ergebnisse erschienen – die meisten waren alte Zeitungsarchive, Bürgerforen oder True-Crime-Blogs, die den Fall zusammenfassten. Die Details waren immer dieselben: David, 24 Jahre alt, zuletzt gesehen am 3. März 1985, als er O’Haras Taverne verließ. Sein Auto – ein brandneuer Mercedes-Benz 190E von 1983 – wurde ebenfalls als vermisst gemeldet.
Die Suche brachte noch etwas anderes zutage: eine eingescannte Kopie eines alten Polizeiberichts. Margaret öffnete ihn.MISSING PERSON REPORT — NIAGARA COUNTY, NY
Name: David Armitage
Alter: 24
Zuletzt gesehen: 3. März 1985
Beschreibung: 1,85 m groß, dunkle Haare, braune Augen. Zuletzt gesehen in einer Jeansjacke und grauer Hose.
Fahrzeug: Mercedes-Benz 190E, beige, Kennzeichen RDK-4827.
Margaret starrte die Worte an, ihre Brust schnürte sich zusammen. Das Auto. Ihr Auto. Dasselbe Auto, das jetzt still und unscheinbar auf dem Parkplatz ihres Wohnhauses stand und den Geist eines Mannes in sich trug, der einfach verschwunden war.
An diesem Nachmittag fuhr Margaret zur örtlichen Polizeiwache. Das Gebäude wirkte heruntergekommen – Neonröhren flackerten über einem abgeplatzten Linoleumboden, und der schwache Geruch von verbranntem Kaffee lag in der Luft. Ein junger Beamter am Empfang blickte auf, als sie näher kam.
„Hallo“, sagte Margaret und zwang sich zu einem höflichen Lächeln. „Ich wollte fragen, ob ich Einsicht in einige alte Akten bekommen könnte – genauer gesagt, in eine Vermisstenanzeige von 1985. Der Name ist David Armitage.“
Der Beamte runzelte die Stirn. „Haben Sie eine Genehmigung dafür?“
„Nicht direkt“, gab Margaret zu. „Aber ich glaube, ich habe etwas gefunden, das relevant sein könnte. Ich habe mir vor Kurzem ein Auto gekauft – einen Mercedes von 1983 – und darin Fotos des Vermissten gefunden. Ich glaube, es könnte sein Auto sein.“
Der Beamte blinzelte und verarbeitete ihre Worte. „Sie meinen, Sie könnten das Auto des Vermissten haben?“
Margaret nickte. „Ja. Ich denke schon.“ Der Beamte verschwand im Hinterzimmer. Margaret wartete einige Minuten lang, ihr Herz klopfte. Als er zurückkam, wurde er von einer Frau in ihren Fünfzigern begleitet – einer Kriminalbeamtin, wie man an ihrem Abzeichen am Gürtel erkennen konnte. Ihr Gesichtsausdruck war ruhig, aber neugierig.
„Ich bin Detective Owens“, sagte sie und reichte ihm die Hand. „Können Sie mir genau sagen, was Sie gefunden haben?“ Margaret erklärte alles – den Filmstreifen, die Fotos, die mit „D“ unterschriebene Notiz und wie sie die Verbindung zu David Armitage entdeckt hatte. Owens hörte aufmerksam zu und machte sich Notizen. Als Margaret fertig war, lehnte sich die Detective in ihrem Stuhl zurück, ihr Blick war ruhig.
„Nun, das ist ja interessant“, sagte sie. „David Armitages Akte war jahrzehntelang ungelöst. Es gab natürlich Theorien, aber nichts Konkretes. Sie sagen, Sie haben das Auto?“
„Ja“, sagte Margaret. „Ich habe es vor einer Woche bei einer staatlichen Auktion ersteigert.“ Owens presste die Lippen zusammen. „Das ist ungewöhnlich. Der Wagen wurde 1985 als vermisst gemeldet. Er hätte nicht einfach so wieder auftauchen dürfen, ohne dass es jemandem aufgefallen ist. Haben Sie die Fahrgestellnummer noch?“ Margaret nickte und zog einen gefalteten Zettel aus ihrer Tasche. Die Kommissarin nahm ihn und verglich ihn mit den alten Daten auf ihrem Computer. Nach ein paar Sekunden atmete sie scharf aus.
„Donnerwetter“, sagte Owens. „Das passt ja perfekt.“
Sie führten Margaret einen schmalen Flur entlang in einen staubigen Archivraum voller alter Akten und Kartons. Owens nahm einen Karton mit der Aufschrift „ARMITAGE, DAVID – 1985“ und legte ihn auf den Tisch.
„Offiziell“, begann sie und schlug den Umschlag auf, „wurde der Fall als ungelöstes Vermisstenfall behandelt. Keine Hinweise auf ein Verbrechen, keine Anzeichen von Gewalt, keine finanziellen Aktivitäten nach der Nacht seines Verschwindens. Das Auto wurde nie gefunden, und er auch nicht.“ Margaret beugte sich näher zu Owens, als diese die alten Fotos und handgeschriebenen Notizen ausbreitete. Sie waren vergilbt, die Tinte verblasst, aber noch lesbar. Auf einem Foto war derselbe Mercedes zu sehen, geparkt vor O’Haras Taverne, dessen Scheinwerfer den nassen Asphalt erhellten. Ein anderes Foto zeigte David selbst – ungezwungen, ohne die Kamera zu bemerken, neben dem Auto stehend, die Hände in den Hosentaschen.
„Er sieht … normal aus“, murmelte Margaret. Owens nickte. „Er war es. Laut seinen Freunden hatte David keine Probleme. Er war nicht kriminell, hatte keine Schulden. Er arbeitete nebenbei in einem Baumarkt und spielte Gitarre in einer Kneipe. Dann, eines Abends, verschwand er einfach. Das Einzige, was uns aufgefallen ist, war das Gerücht, er hätte erwähnt, nach Kanada auswandern zu wollen.“
Margarets Puls beschleunigte sich. „Seine Mutter hat mir das auch erzählt. Sie sagte, er wolle nach Norden.“
Owens sah sie scharf an. „Sie haben mit Helen Armitage gesprochen?“
„Ja. Gestern.“
Die Kommissarin tippte nachdenklich mit ihrem Stift. „Wenn das, was Sie sagen, stimmt und das Auto irgendwie die Grenze überquert hat, gibt es vielleicht Aufzeichnungen darüber. Fahrzeugpapiere, Zollprotokolle – vielleicht sogar eine Neuausstellung unter einem anderen Namen. So könnte es Jahrzehnte später wieder aufgetaucht sein.“
Sie schob Margaret die Schachtel zu. „Hier. Schauen Sie mal rein. Vielleicht entdecken Sie etwas, das uns anderen entgangen ist.“ Margaret durchblätterte die Seiten sorgfältig. Ein Polizeibericht fiel ihr ins Auge – ein kurzer Eintrag vom 10. März 1985:„Unbestätigter Hinweis von einem Lkw-Fahrer auf der I-90, der einen beigen Mercedes in Richtung Niagara Falls gesehen haben will. Der Fahrer sagte, der Mann habe ruhig gewirkt, als wüsste er, wo er hin will.“
Margaret stockte der Atem. Niagara Falls – das Tor zu Kanada.
Owens bemerkte ihren Gesichtsausdruck. „Das ist der eine Hinweis, der mich immer beunruhigt hat“, sagte sie. „Wenn es stimmte, könnte David die Grenze überquert haben, bevor irgendjemand sein Verschwinden bemerkte. Aber wir haben nie Beweise gefunden. Keine Passdaten, keine Sichtungen, keine Transaktionen. Es war, als wäre er ins Nichts gefahren.“
Margaret starrte auf den Zettel, ihre Gedanken rasten. „Vielleicht hat er einen falschen Namen benutzt.“
„Möglich“, stimmte Owens zu. „Aber das würde bedeuten, dass er sein Verschwinden geplant hat. Die meisten Menschen, die verschwinden, planen nicht im Voraus – sie fliehen. Aber David sah nicht so aus, als würde er vor etwas fliehen. Er sah aus, als würde er auf etwas zulaufen.“
Als Margaret an jenem Nachmittag den Bahnhof verließ, war der Himmel bedeckt, graue Wolken zogen über der kleinen Stadt auf. Sie stand neben dem Mercedes auf dem Parkplatz, der Wind zupfte sanft an ihrem Mantel.
Sie fuhr mit der Hand über den verblassten Lack und fuhr die Dellen und Kratzer nach. Der Wagen hatte so viel gesehen – Jahrzehnte voller Staub und Stille, unzähliger befahrener Straßen und vergessener Leben. Irgendwo in ihm lag die Antwort auf das, was mit David Armitage geschehen war.
Margaret öffnete das Handschuhfach noch einmal, halb in der Hoffnung, einen weiteren versteckten Hinweis zu finden. Darin befanden sich nur ein alter Zulassungsschein und ein verblasster Lufterfrischer in Form einer Kiefer. Sie seufzte und setzte sich hinter das Steuer, den Blick durch die Windschutzscheibe auf die Straße vor ihr gerichtet.
Niagarafälle. Dorthin war er gegangen. Dort hatte dieses Rätsel begonnen, zur Legende zu verblassen – und dort würde sie die Spur wieder aufnehmen.
Sie startete den Motor. Der Mercedes erwachte ächzend zum Leben, dasselbe störrische Brummen wie zuvor. Margaret umklammerte das Lenkrad fester.
„Lass uns ihn suchen“, flüsterte sie. Der Wagen rollte los, das Geräusch der Reifen auf dem Asphalt hallte leise gegen den grauen Himmel wider. Die Reise nach Norden hatte begonnen.
Als sie den Stadtrand erreichte, lief im Radio ein Oldies-Sender. Ein bekannter Song aus den 80er-Jahren erklang – der gleichen Zeit, in der David verschwunden war. Margaret lächelte schwach. Es wirkte fast poetisch.
Irgendwo da draußen, jenseits jahrzehntelanger Stille und vergessener Straßen, warteten die Antworten. Sie ahnte noch nicht, dass ihre Entdeckung nicht nur das Rätsel um das Verschwinden eines Mannes lösen, sondern auch ihr Verständnis davon, was es wirklich bedeutete, zu verschwinden, verändern würde.
Und als der Regen einsetzte und leise gegen die Windschutzscheibe klopfte, gab sie mehr Gas und jagte einem Geist durch die Zeit hinterher