Mann bleibt 40 Jahre lang verschwunden, bis eine Frau ein altes, gebrauchtes Auto kauft.

Kapitel 6: Das Versprechen, ihn zu finden

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Am nächsten Morgen fiel Sonnenlicht auf Margarets kleinen Küchentisch und spiegelte sich am Rand der Kaffeetasse, die sie nicht angerührt hatte. Die Nacht war unruhig gewesen. Evelyns Gesicht – eine Mischung aus Trauer und Hoffnung – verfolgte sie noch immer. Margaret hatte versprochen, ihren Bruder zu finden, doch erst jetzt begriff sie die Tragweite dieses Versprechens. Sie hatte nichts weiter als eine Spur von Hinweisen, die nach Norden führten – die Niagarafälle, die Postkarten, die fehlenden Fahrzeugpapiere – und dennoch fühlte sie sich David Armitage näher als irgendjemand in den letzten vierzig Jahren. Das Auto, das still in ihrer Einfahrt stand, war nun mehr als nur ein Transportmittel; es war das letzte Überbleibsel seines Lebens, bevor er spurlos verschwand. Margaret blickte auf die Fotos, die vor ihr auf dem Tisch ausgebreitet waren. Davids unbeschwertes Lächeln blickte ihr entgegen, eingerahmt von einem Leben, das in einem anderen Jahrzehnt eingefroren war. Der Zettel – „Fahre bald los. Warte nicht auf mich.“ – lag daneben, seine Worte hatten eine neue Bedeutung. Es war kein Abschied voller Panik oder Angst; er war ruhig und überlegt. Er hatte weggehen wollen.

Er hatte geplant, wegzugehen.

Aber wohin war er gegangen?

Am späten Vormittag war Margaret zurück auf der Polizeiwache und stand in demselben beengten Büro, das sie erst wenige Tage zuvor besucht hatte. Detective Owens blickte von ihrem Schreibtisch auf, als Margaret hereinkam.

„Ich dachte, ich würde Sie wiedersehen“, sagte Owens mit einem schwachen Lächeln. „Sie haben die Schwester gefunden, nicht wahr?“

„Ja“, antwortete Margaret. „Evelyn. Sie hat mir ein paar alte Sachen von David gezeigt – Briefe, Postkarten, eine von den Niagarafällen. Er erwähnte, dass er vielleicht dort übernachten würde.“ Owens lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, ihr Interesse war geweckt. „Niagarafälle“, wiederholte sie. „Das passt. Der Hinweis mit dem Mercedes, der Richtung Grenze fuhr – vielleicht war das kein Zufall.“

Margaret zögerte. „Wenn er nach Kanada einreiste, gäbe es dann noch Aufzeichnungen darüber?“

„Vielleicht“, sagte Owens nachdenklich. „Aber vierzig Jahre sind eine lange Zeit. Die meisten dieser Unterlagen wären längst vernichtet oder in Archiven abgelegt worden. Trotzdem gibt es noch einen anderen Ansatz, den wir verfolgen könnten.“

Sie stand auf und zog einen dicken Ordner aus dem Regal. Darin befanden sich Fotokopien von Fahrzeugzulassungen, Fahrzeugübertragungen und Zolldokumenten. Owens blätterte sie durch, bis sie ein verblasstes Formular von 1986 fand.

„Da“, sagte sie und zeigte darauf. „Ein Mercedes-Benz 190E von 1983, in Ontario auf einen neuen Namen zugelassen – David Lake. Dieselbe Fahrgestellnummer.“

Margaret stockte der Atem. „David Lake?“

Owens nickte. „Das liegt nahe. Von Armitage zu Lake – das passt zu dem Muster, dass jemand versucht, neu anzufangen, ohne seine Vergangenheit vollständig auszulöschen.“

Margaret starrte auf die Seite, ihr Puls beschleunigte sich. „Glauben Sie, er lebt noch?“

Owens sah sie nachdenklich an. „Wenn er noch lebte, als das Auto zugelassen wurde, bedeutet das, dass er es geschafft hat. Was danach geschah …“ Sie zuckte mit den Achseln. „Dafür müssten Sie nach Kanada reisen.“

Am nächsten Tag packte Margaret ihre Koffer. Sie hatte nicht viel dabei – nur ein paar Kleidungsstücke zum Wechseln, ihren Laptop, einen Ordner mit Dokumenten und den Umschlag mit den Fotos, mit denen alles angefangen hatte. Sie achtete darauf, Davids handgeschriebene Notiz einzupacken und steckte sie wie einen Glücksbringer in ihre Brieftasche.

Bevor sie die Stadt verließ, machte sie noch einmal Halt bei Evelyn. Die ältere Frau öffnete die Tür, und Überraschung spiegelte sich in ihrem Gesicht.

„Du fährst schon?“, fragte sie.

Margaret nickte. „Die Spur führt nach Norden. Ich kann nicht sagen, was ich finden werde, aber ich glaube, er hat es nach Kanada geschafft. Sein Auto ist dort unter einem anderen Namen zugelassen – David Lake.“

Evelyn hielt sich die Hand vor den Mund. „Lake …“, flüsterte sie. „Das klingt nach etwas, das er gewählt hätte. Er hat das Wasser immer geliebt.“

Margaret lächelte sanft. „Dann hat er vielleicht in der Nähe des Wassers seinen Frieden gefunden.“ Evelyn trat näher und griff nach Margarets Händen. „Ich kann Ihnen gar nicht genug danken“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Wenn Sie ihn finden – oder irgendetwas über ihn –, dann sagen Sie ihm bitte, dass ich ihm schon vor langer Zeit vergeben habe. Er muss nicht nach Hause kommen. Ich möchte nur wissen, dass er glücklich war.“

„Ich werde es ihm sagen“, versprach Margaret. Evelyn zögerte, ging dann ins Wohnzimmer und kam mit einem kleinen Umschlag zurück. „Nehmen Sie das. Es ist das letzte Foto, das ich von ihm gemacht habe. Ich glaube, er würde es Ihnen geben wollen.“ Margaret nahm den Umschlag vorsichtig entgegen. Das Foto zeigte einen jungen David, der sich an die Motorhaube seines Mercedes lehnte. Die tiefstehende Sonne tauchte ihn in goldenes Licht. Er wirkte ruhig – ja, zufrieden. Es war nicht das Bild eines Mannes, der vor etwas flüchtete, sondern das eines Mannes, der auf etwas zuging, das er sich lange gewünscht hatte.

Die Fahrt nach Niagara fühlte sich unwirklich an. Je weiter sie fuhr, desto mehr verschwamm die Welt um sie herum zu einer Erinnerung. Das Brummen des Mercedes-Motors klang wie ein Echo aus der Vergangenheit, und manchmal, wenn das Sonnenlicht im richtigen Winkel auf die Windschutzscheibe fiel, konnte sie sich David fast auf dem Beifahrersitz neben sich vorstellen, wie er sie gen Norden lotste.

Als sie endlich die Grenze erreichte, hielt Margaret an einem kleinen Rastplatz mit Blick auf den Fluss. Das Tosen der Niagarafälle war in der Ferne leise zu hören. Sie stieg aus dem Auto, spürte den Nebel in der Luft und entfaltete die Postkarte, die Evelyn ihr gezeigt hatte.

„Du würdest es hier lieben. Der Lärm, der Nebel, die Freiheit.“

Die Handschrift war unverkennbar – kräftig, ordentlich, entschlossen.

Margaret schloss die Augen und ließ sich den Wind über das Gesicht streichen. Sie konnte seine Anwesenheit fast spüren – die des jungen Mannes, der einst hier gestanden, über das Wasser geblickt und von einem Neuanfang geträumt hatte.

Später am Abend checkte sie in einem kleinen Motel nahe der kanadischen Grenze ein. Der Angestellte, ein älterer Mann mit freundlichen Augen, bemerkte ihren müden Gesichtsausdruck.

„Lange Fahrt?“, fragte er.

„Das kann man so sagen“, erwiderte Margaret und zwang sich zu einem Lächeln.

Er reichte ihr einen Schlüssel. „Wenn Sie länger bleiben, sollten Sie vielleicht mal im historischen Archiv der Stadt nachsehen. Wir haben Unterlagen bis zurück in die 80er-Jahre – Autoverkäufe, Grundbucheinträge, solche Sachen. Manchmal findet man da interessante Geschichten.“

Margaret erstarrte. „Historisches Archiv?“

Der Mann nickte. „Das alte Rathaus, drei Blocks weiter. Dort werden die Archive aller aufbewahrt, die früher hier Grundstücke besaßen.“

Am nächsten Morgen ging Margaret direkt dorthin. Das Gebäude war alt, mit knarrenden Holzböden, und der Geruch von Papier und Staub hing in der Luft. Die Angestellte hinter dem Tresen, eine Frau in ihren Siebzigern, musterte sie durch ihre Lesebrille.

„Ich suche Unterlagen unter dem Namen David Lake“, erklärte Margaret. „Irgendwann um 1986 oder 1987.“

Die Angestellte runzelte die Stirn, begann aber, in ihren Akten zu suchen. Nach einigen Minuten blickte sie auf. „Es gab einen David Lake, der eine kleine Werkstatt in der Nähe der Mapleview Street gemietet hatte. Er war Schreiner. Bar bezahlt. Keine neue Adresse.“

Margaret spürte einen Stich in der Brust. „Wissen Sie, ob sich hier jemand an ihn erinnert?“

Die Angestellte überlegte kurz. „Sie könnten es bei Vince versuchen – der Autowerkstatt in der Mapleview. Er ist schon ewig da. Kennt jeden.“

Margaret bedankte sich und eilte hinaus.

Vinces Autowerkstatt war ein gedrungenes Backsteingebäude an der Straßenecke, so ein Ort, der nach Motoröl und Nostalgie roch. Drinnen beugte sich ein älterer Mann mit ölverschmierten Händen über die Motorhaube eines Lastwagens.

„Entschuldigen Sie“, sagte Margaret. „Sind Sie Vince?“ Der Mann richtete sich auf und wischte sich die Hände an einem Lappen ab. „Ja, ich bin’s. Was kann ich für Sie tun?“

„Ich suche jemanden. Er war wohl vor langer Zeit hier – Mitte der 80er. Er hieß David Lake.“

Einen Moment lang sagte Vince nichts. Dann runzelte er die Stirn. „David Lake …“ Er nickte langsam. „Ja, ich erinnere mich an ihn. Ein ruhiger, höflicher Mann. Fuhr einen alten beigen Mercedes – so ein schickes Modell von damals. Hat eine Zeit lang bei mir gearbeitet und Motoren repariert. War handwerklich sehr geschickt.“ Margaret stockte der Atem. „Wissen Sie noch, was mit ihm passiert ist?“

Vince zuckte mit den Achseln. „Eines Winters sagte er, er wolle weiter nach Norden ziehen. Er suchte einen Ort mit mehr Platz, vielleicht eine Tischlerei eröffnen. Vor seiner Abreise verkaufte er den Mercedes. Bar bezahlt, kein Abschied. Einfach so – weg.“

„Hat er jemals über seine Herkunft gesprochen?“ Vince lächelte schwach. „Nein. Ich hatte das Gefühl, er wollte nicht über die Vergangenheit reden. Aber er versteckte sich vor nichts. Er war … frei, denke ich. Glücklich auf seine eigene, stille Art.“

Margaret stand da, Tränen stiegen ihr in die Augen. Zum ersten Mal war David nicht nur ein Gesicht auf einem Foto – er war real, lebendig, atmete und baute sich jenseits der Grenze ein neues Leben auf.

Vince sah sie neugierig an. „Warum fragst du überhaupt? Bist du mit ihm verwandt?“

Margaret schüttelte den Kopf. „Nein. Nur jemand, der seine Geschichte gefunden hat.“

Vince lächelte sanft. „Sag demjenigen, der ihn sucht, dass er in Frieden schien, als ich ihn kannte. Manche Menschen laufen nicht weg – sie finden einfach ihren Platz.“

In jener Nacht saß Margaret in ihrem Auto, das vor dem Motel parkte. Die Scheinwerfer spiegelten sich schwach im Nebel, der vom Fluss herüberwehte. Sie schlug ihr Notizbuch auf und begann, alles aufzuschreiben, was sie erfahren hatte – jeden Namen, jeden Ort, jedes Fragment aus Davids Leben.

Evelyns Worte hallten in ihrem Kopf wider: „Sag ihm, ich habe ihm schon vor langer Zeit vergeben.“

Margaret lächelte traurig. „Er wusste es bereits“, flüsterte sie. „Er brauchte nur jemanden, der die Spur weiterverfolgte.“ Draußen rauschte der Wasserfall endlos, zeitlos und kraftvoll – ein Symbol für die Freiheit, nach der David gesucht hatte. Und während das Rauschen die Nacht erfüllte, schwor Margaret sich im Stillen: Sie würde seinem Weg folgen, bis sie an sein Ende gelangte, wohin er sie auch führen würde. Das Versprechen war keine Last mehr. Es war eine Berufung.

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