Mann bleibt 40 Jahre lang verschwunden, bis eine Frau ein altes, gebrauchtes Auto kauft.

Kapitel 7: Eine Spur in den Akten

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Das Morgenlicht in St. Catharines war fahl und kühl, es ließ die Grenze zwischen gestern und heute verschwimmen. Margaret stand vor dem kleinen Standesamt in der Main Street, ihr Atem war in der Kälte sichtbar. Die Stadt war ruhig und gemächlich – eine Ansammlung niedriger Backsteinhäuser, verblasster Ladenfronten und enger Straßen, die wie in der Zeit eingefroren wirkten.

Drinnen roch es im Standesamt nach Staub und Kaffee. Leise summten Neonröhren über einer Reihe von Metallschränken. Die Angestellte am Empfang, eine Frau in ihren Sechzigern mit Lesebrille auf der Nase, warf ihr einen höflichen, aber neugierigen Blick zu.

„Guten Morgen“, sagte Margaret und klopfte sich den kalten Mantel ab. „Ich suche Informationen über einen Mann, der Mitte der Achtzigerjahre hier gelebt haben könnte. Er hieß David Lake. Ich glaube, er hat hier ein Fahrzeug angemeldet oder eine Wohnung gemietet.“

Die Frau hob eine Augenbraue. „David Lake? Das ist ja schon eine ganze Weile her.“

„Ich weiß“, sagte Margaret. „Aber es ist wichtig.“

Die Angestellte musterte sie einen Moment lang, seufzte dann leise und deutete nach hinten. „So alte Unterlagen sind nicht digital. Sie müssen selbst in den Archivkartons suchen. Untergeschoss, Archivraum B. Ich hole Ihnen einen Schlüssel.“

Im Keller roch es leicht nach Schimmel und Pappe. Reihen von Metallregalen reichten bis an die Wände, vollgestopft mit vergilbten Ordnern und brüchigen Papierkartons. Margaret schaltete die einzige Deckenleuchte an und begann zu suchen. Sie war sich nicht sicher, was sie zu finden hoffte – einen Mietvertrag, eine Quittung, irgendetwas, das bewies, dass David wirklich hier gewesen war, dass er nicht in dem Moment, als er die Grenze überquerte, spurlos verschwunden war.

Sie fuhr mit den Fingern über die Etiketten der Kartons: Grundbucheinträge 1984, Fahrzeugübertragungen 1985, Arbeitsgenehmigungen 1986. Sie zögerte, dann zog sie den letzten Karton aus dem Regal. Darin befanden sich Hunderte von Dokumenten, getippt und handschriftlich, alle mit Namen, die die Zeit größtenteils verblasst hatte.

Nach einer Stunde des Durchwühlens des Stapels erstarrte sie.

Da war es.

„Lake, David – 1986, Fahrzeugzulassung.“

Ihr Puls beschleunigte sich. Vorsichtig zog sie das Dokument heraus und legte es flach auf den Tisch. Das Formular war alt, aber noch lesbar:

Halter: David Lake

Fahrzeug: Mercedes-Benz 190E (Beige)

Zulassungsdatum: 17. März 1986

Adresse: Mapleview Street, St. Catharines

Margaret atmete aus, ihre Hände zitterten leicht. Er hatte es geschafft. Das Auto – sein Auto – dieses Auto – hatte die Grenze überquert und war neu zugelassen worden.

Sie drehte das Papier um und fand auf der Rückseite einen verblassten Stempel: „Ummeldung durchgeführt von Vince’s Auto Repairs, Mapleview Motors.“

Dieser Name durchfuhr sie wie ein Blitz.

Sie erinnerte sich an die Worte des Sachbearbeiters im Obergeschoss: „Wenn Sie jemanden von damals suchen, fragen Sie Vince. Der ist schon ewig hier.“

Das war kein Zufall.

Innerhalb einer Stunde stand sie vor Mapleview Motors – einer kleinen, verwitterten Autowerkstatt mit einem alten, schief im Fenster hängenden „Geöffnet“-Schild. Der Geruch von Motoröl und Metall lag in der Luft. Drinnen klapperten Werkzeuge, und aus dem Radio dröhnte sanfter Rock aus einem anderen Jahrzehnt.

Ein Mann in seinen späten Siebzigern blickte unter der Motorhaube eines Lastwagens hervor. Sein graues Haar war fettig, sein Overall von jahrzehntelanger Arbeit fleckig.

„Haben Sie sich verlaufen?“, fragte er und kniff die Augen zusammen.

„Nein“, sagte Margaret schnell. „Ich suche jemanden. Oder besser gesagt, ich suche Informationen über jemanden, der vielleicht vor langer Zeit hier gearbeitet hat. Sein Name war David Lake.“

Der Mann richtete sich langsam auf und legte seinen Schraubenschlüssel beiseite. Einen Moment lang runzelte er die Stirn, als kramte er in alten Erinnerungen. Dann wurde sein Gesichtsausdruck weicher.

„David Lake …“, sagte er und ließ den Namen auf der Zunge zergehen. „Ja, ich erinnere mich an ihn.“

Margarets Herz machte einen Sprung. „Wirklich?“

Er nickte. „Ein ruhiger Typ. Ein guter Arbeiter. Kam eines Winters hierher – muss ’86 oder ’87 gewesen sein – und sagte, er sei gerade aus dem Norden zugezogen, oder vielleicht auch von der anderen Seite der Grenze, ich weiß es nicht mehr genau. Fuhr einen kleinen beigen Benz, komisch, für einen Mann, dem Geld egal war. Er sagte, er hätte ihn selbst repariert.“

Margaret lächelte schwach. „Das klingt nach ihm.“

Vince kicherte. „Ja, das ist David. Er redete nicht viel, aber er konnte alles reparieren. Motoren, Schränke, Gitarren – alles. Er war wie einer von denen, die aus Treibholz ein Haus bauen konnten.“

„Weißt du, was mit ihm passiert ist?“, fragte sie, fast ängstlich vor der Antwort.

Vince kratzte sich am Kinn. „Er blieb ein paar Jahre. Arbeitete nebenbei und zahlte bar. Dann verkaufte er eines Tages den Wagen – ich glaube an einen jungen Mann – und sagte, er wolle weiter nach Norden. Er wollte eine Holzwerkstatt eröffnen, irgendwo, wo es ruhiger ist.“

Er wirkte einen Moment nachdenklich, dann fügte er hinzu: „Er schien nicht auf der Flucht zu sein. Eher wie jemand, der endlich seinen Platz gefunden hatte.“ Margarets Augen brannten. Sie hatte kalte Fakten erwartet, nicht Wärme – nicht dieses Bild eines Mannes, der in seinem Exil gelebt, gearbeitet und Frieden gefunden hatte.

„Weißt du noch, wohin er gegangen ist?“, fragte sie leise. Vince runzelte die Stirn. „Hmm. Ich glaube, er erwähnte eine Stadt in der Nähe des Sees – irgendwas mit ‚G‘. Gravenhurst, vielleicht? Ja, genau. Er sagte, er hätte dort Freunde, die Möbel bauen. Er meinte, es sei so ein Ort, wo niemand Fragen stellt.“

Gravenhurst. Der Name traf sie wie ein Blitz.

Bevor sie ging, dankte sie Vince und sah sich noch einen Moment in der Werkstatt um. Sie hatte etwas Beruhigendes an sich – der Geruch von Öl, das Summen der Maschinen, die Poster aus den 80ern, die noch immer an den Wänden hingen. Sie konnte sich David dort vorstellen, die Ärmel hochgekrempelt, wie er leicht lächelte, während er Schrauben festzog oder sich das Fett von den Händen wischte. Es war nicht schwer, ihn sich vorzustellen, wie er leise vor sich hin lachte, endlich im Reinen mit sich selbst.

Draußen hatte sich der Himmel wieder grau verfärbt. Der Wind trug den leichten Duft von Regen und das leise, ferne Rauschen der Wasserfälle herbei. Margaret lehnte sich an das Auto und schloss die Augen.

Zum ersten Mal seit sie den Film gefunden hatte, begannen sich die Puzzleteile zusammenzufügen.

Er war nicht gestorben.

Er war nicht entführt worden.

Er hatte sich entschieden zu gehen.

Und vielleicht – nur vielleicht – hatte er das Leben gefunden, das er sich immer gewünscht hatte.

Margaret verbrachte den Rest des Tages damit, der nächsten Spur nachzugehen. Sie hielt an einem Diner am Stadtrand und bestellte einen Kaffee, den sie kaum anrührte, während sie auf ihrem Laptop nach Gravenhurst suchte. Es war eine kleine Stadt am See in Ontario, ein paar Autostunden nördlich. Genau die Art von Ort, zu dem sich David hingezogen gefühlt haben könnte – ruhig, umgeben von Wäldern und Wasser.

Sie öffnete die Datei, die sie aus Vinces Laden eingescannt hatte, und starrte erneut auf seinen Namen: David Lake. Ein Mann, der wiedergeboren wurde.

Als draußen der Regen einsetzte, dachte sie an Evelyn. An die Jahrzehnte, die sie in Ungewissheit verbracht hatte, in denen sie sich ihren Bruder tot in einem vergessenen Graben vorgestellt hatte. Margaret konnte es kaum erwarten, es ihr zu erzählen – ihr den Beweis zu liefern, dass David gelebt hatte, dass er nicht einfach verschwunden war.

Sie stellte sich Evelyns Tränen vor – diesmal nicht der Trauer, sondern der Erleichterung.

Doch tief in ihrem Herzen wusste Margaret auch, dass es noch mehr zu entdecken gab. Die Geschichte endete nicht in St. Catharines. Das Auto, der Name, die Werkstatt – alles nur Bruchstücke eines zweiten Lebens.

Wenn sie ihr Versprechen halten wollte, musste sie es bis zum Ende durchziehen.

In jener Nacht checkte sie in einem kleinen Motel am Straßenrand ein. Der Regen prasselte unaufhörlich auf das Dach, während sie am Schreibtisch saß und die Dokumente vor sich ausbreitete. Mit dem Finger fuhr sie die Zeitleiste nach:

1985 – Verschwindet.

1986 – Auto in Ontario zugelassen.

1987 – Arbeitet bei Mapleview Motors.

Dann Stille.

Margaret starrte auf die Leere, die folgte – die Jahre, die zwischen seinem Neuanfang und dem ungewissen Ende verloren gegangen waren. Irgendwo hinter dieser Stille, da war sie sich sicher, wartete die Wahrheit.

Sie schloss die Augen und flüsterte in die Nacht, als könnte David sie über Zeit und Raum hinweg hören:

„Ich werde dich finden. Ich habe es ihr versprochen.“

Draußen ließ der Regen nach und wurde zu einem leichten Nebel, und durch das gesprungene Motelfenster konnte sie die schwache Spiegelung des Wagens erkennen – denselben Mercedes, der David vor all den Jahren fortgebracht hatte und der nun erneut darauf wartete, seine Reise zu vollenden.

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