Kapitel 8: Überquerung der Grenze

Am nächsten Morgen lag dichter Nebel wie ein schweres Leichentuch über dem Fluss und kräuselte sich in dünnen Schleiern über dem Wasser. Margaret stand am Rand des Parkplatzes nahe der Grenzstation und beobachtete, wie sich die Lastwagen langsam zu den Zollkontrollen vorarbeiteten. Ihre Bremslichter leuchteten rot durch den Nebel und verschwanden im fahlen Grau dahinter. Es fühlte sich an, als hielte die Welt den Atem an.
Sie lehnte sich mit fest verschränkten Armen an den Mercedes. Die Luft war feucht und kalt, doch es war nicht nur die Kälte, die sie erzittern ließ. Es war das, was vor ihr lag – die unsichtbare Grenze zwischen den Ländern und vielleicht auch zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Sobald sie die Grenze nach Kanada überquert hatte, würde sie den letzten Spuren eines Mannes folgen, der seit vierzig Jahren fort war.
Margaret holte tief Luft und startete den Wagen. Der Motor brummte leise und vertraut. Es fühlte sich seltsam an – dieses Auto, einst Davids, brachte sie nun auf derselben Straße, die er Jahrzehnte zuvor befahren hatte. Der Gedanke erfüllte sie mit Ehrfurcht und Trauer. Das Lenkrad fühlte sich glatt unter ihren Händen an, abgenutzt von jahrelangem Gebrauch. Vielleicht hatten seine Finger in denselben Rillen geruht. Vielleicht war er einst genau diese Straße entlanggefahren, sein Herz raste vor Angst, Hoffnung oder irgendetwas dazwischen.
Am Grenzübergang beugte sich der Zollbeamte zu ihrem Fenster. Er war höflich, ein Mann mittleren Alters, mit einer geübten Neutralität, die verriet, dass er schon Tausende von Gesichtern kommen und gehen gesehen hatte.
„Der Zweck Ihres Besuchs, Ma’am?“, fragte er.
„Ich kümmere mich um eine alte Familienangelegenheit“, sagte sie vorsichtig. „Recherche. Ich suche jemanden, der Mitte der Achtzigerjahre hier gelebt hat.“ Er hob eine Augenbraue, hakte aber nicht weiter nach. „Wie lange bleiben Sie?“
„Nur ein paar Tage.“
Er nickte, stempelte ihren Pass und gab ihn ihr zurück. „Willkommen in Kanada.“
Das Schrankentor öffnete sich. Margaret fuhr los.
Sobald sie die Brücke überquert hatte, löste sich etwas in ihrer Brust – als ob sich in ihr eine Tür knarrend öffnete. Der Nebel lichtete sich und gab den Blick auf die sich langsam ausbreitende Stadt auf der anderen Seite frei. Straßen gesäumt von bescheidenen Häusern, kleinen Cafés und Ahornbäumen, deren Haut noch vom Morgentau benetzt war. Es fühlte sich fremd und vertraut zugleich an, als wäre sie in die Erinnerung eines anderen eingetreten.
Ihr erster Halt war das Niagara Historical Registry, ein gedrungenes Gebäude, dessen Steinfassade mit Efeu bewachsen war. Drinnen roch es nach Staub, Tinte und dem leichten Geruch alten Papiers. Hinter dem Empfangstresen saß eine Bibliothekarin mit weichem, grauem Haar und freundlichen Augen.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie.
Margaret nickte. „Ich suche Unterlagen aus den 1980er-Jahren. Ich versuche, einen Mann zu finden, der sich möglicherweise unter dem Namen David Lake hier niedergelassen hat. Er hätte 1986 ein Auto hier angemeldet – einen alten Mercedes-Benz.“
Die Bibliothekarin neigte den Kopf. „David Lake … ich glaube, ich habe diesen Namen schon einmal gehört.“ Sie wandte sich ihrem Computer zu, tippte ein paar Befehle ein und runzelte die Stirn. „So weit zurückliegend gibt es nichts Digitales, aber sehen wir mal im Mikrofilmarchiv nach.“ Gemeinsam stiegen sie in den Keller hinab, wo sich Reihen von Mikrofilmschränken an den Wänden reihten. Die Bibliothekarin zeigte ihr, wie man die Filmrollen einlegt, und ließ sie dann allein. Das Summen des Computers durchbrach die Stille, während Margaret durch alte Zeitungsseiten blätterte – Kleinanzeigen, Todesanzeigen, Bekanntmachungen, Polizeiberichte.
Stunden vergingen, bis sie es entdeckte.
Eine kleine Anzeige vom 2. Mai 1987:
Mapleview Motors begrüßt lokalen Handwerker
Der ehemalige Mechaniker David Lake eröffnet eine Holzwerkstatt in der Elm Street und bietet handgefertigte Möbel und Hausrenovierungen an. „Jedes Stück erzählt eine Geschichte“, sagte Lake und lächelte in die Kamera.
Ihr stockte der Atem. Da war ein Foto – körnig, schwarz-weiß, aber unverkennbar. Derselbe Mann wie auf dem Film. Älter, vielleicht, etwas schlanker, sein Haar länger. Aber die Augen – dieselben ruhigen, suchenden Augen, die schon auf jahrzehntealten Fotos geblickt hatten – wirkten noch immer lebendig.
Margaret flüsterte: „Du hast es wirklich getan.“
Sie fuhr quer durch die Stadt zur Elm Street. Die Adresse führte sie zu einem kleinen, verwitterten Gebäude mit einem verblassten Schild: „Lake & Timber Woodworks“. Die Fenster waren staubig, die Tür verschlossen, doch durch das Glas sah sie Regalreihen, handgeschnitzte Stühle und Holzskulpturen, die jahrelang vernachlässigt worden waren.
Sie stand lange da, ihr Spiegelbild verschmolz mit dem Hauch dessen, was einst gewesen war. Staubkörner schwebten träge durch die stille Luft im Inneren, eingefangen in einem Lichtstreifen. Der Ort wirkte wie eingefroren – unberührt, aber nicht vergessen.
„Kann ich Ihnen helfen, gnädige Frau?“, fragte Margaret und drehte sich um. Ein älterer Mann stand ein paar Schritte entfernt mit einer Einkaufstüte. Er sah sie höflich neugierig an. „Sie sind nicht von hier, oder?“
„Nein“, gab sie zu. „Ich suche jemanden, der früher hier gearbeitet hat. David Lake.“
Der Gesichtsausdruck des Mannes wurde weicher. „Ah, Dave. Den Namen habe ich schon lange nicht mehr gehört.“ Er stellte seine Tüte ab. „Er war ein guter Mann. Ruhig, freundlich. Er hat die besten Tische gebaut, die ich je besessen habe. Meine Frau hat immer noch einen in unserem Esszimmer.“
„Wissen Sie, was mit ihm passiert ist?“, fragte Margaret sanft.
Der Mann seufzte, sein Atem war in der kalten Luft sichtbar. „Er ist leider verstorben. Vor etwa zehn Jahren, vielleicht auch länger. Herzprobleme, hieß es. Er hatte nicht viel Familie. Die Leute hier haben sich um die Beerdigung gekümmert.“
Margaret wurde übel. „Hat ihn jemals jemand gesucht?“
Er schüttelte langsam den Kopf. „Nein. Wir dachten immer, er hätte seine Vergangenheit hinter sich gelassen. Manche sagten, er hätte am Wochenende im Diner Musik gemacht. Andere meinten, er käme aus den Staaten. Aber niemand fragte nach. Dave war so ein Mann, den man mochte, ohne viel über ihn wissen zu müssen.“
„Wissen Sie, wo er begraben liegt?“
Der Mann nickte. „Hilltop Cemetery, gleich die Straße hoch. Ein kleiner Friedhof mit Blick auf den See. Er hat einen schlichten Grabstein. Er sagte immer, er wolle nichts Besonderes.“ Margaret schluckte schwer und blinzelte, um den Schmerz in ihren Augen zu lindern. „Danke“, sagte sie leise.
Sie folgte der Wegbeschreibung zum Hilltop Cemetery. Er lag auf einer sanften Anhöhe mit Blick auf das stille Wasser des Ontariosees. Die späte Nachmittagssonne tauchte alles in goldenes Licht, die Grabsteine warfen lange, stille Schatten ins Gras.
Sie ging zwischen den Gräberreihen hindurch, bis sie ihn fand – einen kleinen Granitgrabstein am Rand einer Birke. Der Name war schlicht, in klaren, sorgfältigen Buchstaben eingraviert:
David Lake (1961–2015)
Ein gütiges Herz verlässt einen nie wirklich.
Margaret kniete davor. Lange sagte sie nichts. Der Wind rauschte durch die Birkenblätter und trug den Duft von Holz und Erde herüber. Irgendwo in der Nähe drang das leise Plätschern des Wassers an ihr Ohr.
Sie legte eines der alten Fotos an den Fuß des Steins – das Foto von David, wie er an seinem Mercedes lehnte und in die Sonne lächelte. Dann nahm sie Evelyns Brief aus ihrer Tasche. Sie entfaltete den Brief langsam, ihre Hände zitterten leicht, und las laut vor:
„Lieber David,
falls du das jemals liest, möchte ich dir sagen, dass ich dir schon lange vergeben habe. Du hast uns nicht zerstört, als du gegangen bist – du hast dich selbst gerettet, und das verstehe ich jetzt.
Ich hoffe, du hast Frieden gefunden. Ich hoffe, die Welt war gut zu dir. In Liebe,
Deine Schwester Evelyn.“
Margarets Stimme versagte mitten im Satz. Sie drückte den Brief sanft gegen den Stein. „Sie hat nie aufgehört zu warten“, flüsterte sie. „Und jetzt kann sie endlich aufhören zu leiden.“
Der Wind frischte auf und wirbelte goldene Blätter an ihren Füßen vorbei. Einen Moment lang konnte sie ihn sich fast vorstellen – David, der still zusah und dasselbe ruhige Lächeln aufsetzte. Ein Mann, der endlich das Leben gefunden hatte, nach dem er immer gesucht hatte.
Als die Sonne tiefer sank, setzte sich Margaret ins Gras neben das Grab, ihre Gedanken schweiften ab. Ihr wurde klar, dass dies nicht nur das Ende von Davids Geschichte war – es war die Vollendung ihrer eigenen Reise. Was mit einem vergessenen Filmstreifen begonnen hatte, war zu etwas viel Größerem geworden: einer Brücke zwischen zwei Leben, die durch Jahrzehnte des Schweigens getrennt waren.
Als sie schließlich aufstand, fühlte sie sich leichter. Der Schmerz in ihrer Brust hatte sich in etwas Sanfteres verwandelt – Verständnis, Akzeptanz. Sie wandte sich dem Wagen zu, der am Straßenrand wartete, demselben Mercedes, der David und seine Geschichte durch die Zeit getragen hatte.
Bevor sie ging, blickte sie ein letztes Mal zurück und flüsterte: „Du hast es geschafft, David. Du hast es wirklich geschafft.“
Dann fuhr sie die kurvenreiche Straße hinunter in die Stadt, der See glitzerte neben ihr und spiegelte das letzte Tageslicht wider – still, endlos und frei.