Segelboot strandet und gerät in Piratenjagd – was die Besatzung unternimmt, um zu überleben, verblüfft alle!

Kapitel 3: Die Rückkehr der Flut

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Die Nacht zog sich schwer und unruhig dahin.

Die Aurora’s Wake trieb unter einem Himmel aus vereinzelten Wolkenfetzen, die Sterne flackerten schwach durch graue Flecken. Der Geruch von Salz und Öl lag in der Luft, scharf und rau. Ethan stand am Steuer, jeder Muskel seines Körpers angespannt, und lauschte dem Knarren des Rumpfes und dem Flüstern des Windes. Neben ihm saß Liam zusammengesunken auf einem Seil, die Augen rot vor Erschöpfung und Angst.

Keiner von beiden hatte geschlafen.

Die Piraten hatten sich kurz vor Mitternacht zurückgezogen und waren so plötzlich in der Dunkelheit verschwunden, wie sie aufgetaucht waren. Doch ihre Abwesenheit brachte keinen Frieden – nur eine tiefere, erdrückendere Stille. Auch der Ozean schien den Atem anzuhalten und zu warten.

Liam durchbrach als Erster die Stille.

„Glaubst du, sie sind weg?“, flüsterte er kaum hörbar.

Ethan antwortete nicht sofort. Er suchte den Horizont durch die beschlagenen Linsen seines Fernglases ab und legte es dann mit einem langsamen Kopfschütteln beiseite. „So einfach kommt man nicht davon. Sie sind da draußen und beobachten uns.“

Liam schluckte schwer. „Glaubst du, sie kommen zurück?“

„Ich weiß“, sagte Ethan schlicht. Er beugte sich über die Reling und prüfte mit einem kleinen Seil die Strömungsrichtung. Das Meer trieb nach Norden – langsam, aber stetig. „Sie warten, bis wir weit genug von unseren letzten Koordinaten abgetrieben sind. Sie wollen uns allein, komplett von der Karte verschwinden.“

Liam rieb sich die Hände, seine Stimme zitterte. „Aber warum wir? Wir haben nichts, was sie wollen.“

Ethan wandte sich dem Deck zu, wo Liams wasserdichte Koffer ordentlich gestapelt und festgeschnallt standen. „Bist du dir da sicher?“

Liam folgte seinem Blick, und die Erkenntnis traf ihn wie ein Schauer. Die Ausrüstung – die Kameras, Sensoren und Computer – war Zehntausende wert. Für die Forscher waren sie Datenwerkzeuge. Für die Piraten waren sie Lösegeld. „Ich hätte …“, begann Liam, doch Schuldgefühle unterbrachen ihn.

„Hör auf“, sagte Ethan mit fester, aber nicht harscher Stimme. „Verschwende deine Zeit nicht mit Grübeleien. Kümmere dich um das, was kommt.“ Er griff nach einer Taschenlampe und hielt sich die Hand vor die Linse, um den Lichtkegel zu bündeln. Er suchte das Wasser erneut ab, auf der Suche nach einem Schimmer – einer Spiegelung, einer Kielwasserlinie, einem Schatten. Nichts.

Aber er spürte es. Der Rhythmus des Meeres stimmte nicht.

Eine Stunde später begann sich der Nebel zu lichten. Der Horizont färbte sich von Schwarz zu Tiefblau, ein Hauch von Morgengrauen färbte den Rand der Welt. Ethan hatte das Steuerrad nicht verlassen. Liam war kurz eingenickt, sein Körper schwankte mit den Wellen des Bootes. Als er erwachte, war der Himmel heller geworden, doch die Luft fühlte sich immer noch schwer an – schwer von etwas Unausgesprochenem. Ethans Augen verengten sich. Weit im Westen kräuselte sich eine dünne Linie der Bewegung über das Wasser. Zu geradlinig, um natürlich zu sein. Zu schnell, um harmlos zu sein.

„Wach auf“, sagte er. Liam blinzelte und setzte sich auf. „Was ist los?“

„Besuch.“

Er reichte Liam das Fernglas. Der Jüngere fummelte damit herum und erstarrte, als er die dunklen Flecken im Morgenlicht sah.

„Sie sind zurück“, hauchte er. Zwei schnelle Boote – dieselben wie zuvor – pflügten parallel durchs Wasser, ihre Kielwasser glichen weißen Narben auf der Meeresoberfläche. Selbst aus der Ferne war ihre Absicht klar.

Ethan startete den Hilfsmotor erneut. Er hustete, stotterte und lief dann an. „Wir können ihnen nicht entkommen“, sagte er. „Aber wir können es ihnen schwer machen.“

Liam klammerte sich an die Reling. „Was wirst du tun?“

„Zeit gewinnen“, sagte Ethan. „Und beten, dass jemand zuhört.“

Der kleine Motor summte schwach, als Ethan das Boot nach Osten steuerte, der aufgehenden Sonne entgegen. Das Licht spiegelte sich grell auf dem Wasser und zwang die Piraten, ihren Kurs zu ändern. Es war nicht viel, aber es verschaffte Ethan ein paar kostbare Sekunden.

Er griff nach dem Funkmikrofon. „Mayday, Mayday, hier spricht Aurora’s Wake. Wir werden von bewaffneten Schiffen verfolgt. Koordinaten …“ Er überprüfte den Kompass und las die Koordinaten schnell vor, zweimal wiederholend. Rauschen verschluckte seine Worte. Dann, leises Knistern – eine Stimme, die versuchte, sich Gehör zu verschaffen.

„…Verstanden… identifizieren…“ Der Rest ging im Rauschen unter.

Ethan schlug mit der Faust gegen die Konsole. „Verdammt!“

Das erste Piratenboot war jetzt nur noch wenige hundert Meter entfernt. Er konnte die Männer an Bord sehen – dunkle Kleidung, Gesichter unter Schals verborgen, Gewehre über der Schulter. Das zweite Boot scherte aus und kreiste weit, um ihnen den Weg abzuschneiden.

„Sie versuchen wieder, uns einzukesseln“, murmelte Ethan.

„Was sollen wir tun?“, fragte Liam mit zitternder Stimme.

„Bleib unten. Und keine Panik.“

Er riss das Boot nach Backbord. Der Rumpf ächzte unter der Last, das zerrissene Segel flatterte nutzlos über ihm. Die Aurora’s Wake war nicht für Geschwindigkeit gebaut, aber sie war robust und störrisch. Ethan spürte, wie ihre Knochen gegen die Wellen ankämpften.

Das erste Piratenboot näherte sich, der Motor heulte auf. Einer der Männer stand am Bug und fuchtelte wild mit den Armen – er forderte sie auf, anzuhalten. Ethan tat es nicht.

Der Mann hob sein Gewehr. Ethans Instinkt erwachte. Er duckte sich und riss Liam mit sich, genau in dem Moment, als ein Feuerstoß die Luft zerriss. Kugeln durchschlugen das Holzgeländer, Splitter flogen über das Deck.

„Jesus!“, schrie Liam und hielt sich den Kopf.

„Bleib unten!“, bellte Ethan.

Er riss das Steuerrad erneut herum und trieb den schwächelnden Motor bis zum Äußersten. Der kleine Motor jammerte protestierend, hielt aber durch. Die Aurora’s Wake schoss gerade so weit vorwärts, dass sie der nächsten Salve ausweichen konnte.

Ethans Gedanken rasten. Weglaufen würde nicht funktionieren. Nicht lange. Er brauchte einen Hebel – etwas, womit sie nicht gerechnet hatten.

Dann sah er es.

Eine schroffe Ansammlung von Felsen vor ihnen, die kaum die Wasseroberfläche durchbrachen. Die Art von Gefahr, die ein unvorsichtiges Boot zum Kentern bringen konnte – oder eines retten konnte, das damit umzugehen wusste.

Er drehte scharf darauf zu.

Liam blickte entsetzt auf. „Ethan, du lässt uns auf Grund laufen!“

„Vertrau mir“, sagte Ethan mit zusammengebissenen Zähnen.

Die See wirbelte weiß um sie herum auf, als das Boot auf die Felsen zusteuerte. Die Piraten folgten ihnen und riefen sich in einer Sprache zu, die weder Ethan noch Liam verstanden. Einer von ihnen feuerte erneut – wild und hastig. Eine Kugel streifte den Mast und hinterließ eine Splitterkerbe.

„Haltet euch fest!“, rief Ethan.

Der Rumpf schrammte an der Kante eines Unterwasserriffs entlang und wurde heftig durchgeschüttelt. Der Aufprall hätte Liam beinahe über Bord geschleudert. Wasser spritzte über das Deck und durchnässte alles. Ethan umklammerte das Steuerrad fester und zwang das Boot, die flache Kante der Felsen zu streifen.

Hinter ihnen versuchte das erste Piratenboot, das Manöver nachzuahmen. Es verlief nicht so reibungslos. Der Rumpf krachte mit einem ohrenbetäubenden Knall gegen das Riff. Die Männer an Bord stolperten, der Motor stotterte, und Rauch quoll aus dem Heck.

Ethan blickte nicht zurück. „Das wird sie aufhalten.“

Das zweite Boot zögerte und fuhr einen weiten Bogen, anstatt direkt zu folgen. Es war vorsichtig – klüger – und das machte alles nur noch schlimmer. „Sie geben nicht auf“, sagte Liam. „Sie warten nur, bis wir in die Enge getrieben sind.“ Ethan nickte grimmig. „Dann geben wir ihnen keine Chance.“ Er korrigierte erneut den Kurs und steuerte zurück ins offene Wasser. Der Motor hustete, stotterte – und ging dann aus. Die plötzliche Stille war ohrenbetäubend. Liams Stimme versagte. „Wir sind manövrierunfähig.“

„Noch nicht“, sagte Ethan. Er griff nach der letzten Signalpistole aus dem Notfallkoffer und lud sie. „Wir haben noch ein Signal.“

Er feuerte. Die rote Leuchtrakete schoss in den Himmel, beschrieb einen hohen Bogen und erstrahlte in hellem Licht. Sie brannte wie eine zweite Sonne und färbte das Meer purpurrot.

Einen Moment lang Hoffnung.

Dann – ein Schuss. Die Leuchtrakete zersprang in der Luft, Funken sprühten über die Wellen, bevor sie sich in Rauch auflöste. Liam starrte entsetzt. „Sie haben sie abgeschossen.“

Ethans Kiefer verkrampfte sich. „Ja. Sie haben es als Erste gesehen.“

Das verbliebene Piratenboot kam wieder näher und kreiste wie ein Raubtier, das seine Beute prüft. Einer der Männer stand am Bug, ein Megafon in der Hand, und rief etwas in gebrochenem Englisch.

„Stoppt das Boot! Stoppt, uns tut nichts!“ Liam sah Ethan panisch an. „Was sollen wir tun?“ Ethans Blick blieb auf die Männer gerichtet. „Sie lügen. Sie werden alles mitnehmen – und uns, wenn wir Glück haben.“ Der Pirat schrie erneut, diesmal wütender. „Stoppt das Boot! Oder wir töten euch!“ Ethan ging zum Geländer, hob die Leuchtpistole und zielte direkt auf den Treibstofftank des Piraten. Der Mann erstarrte mitten im Schrei.

„Sagt euren Leuten, sie sollen zurückweichen“, sagte Ethan mit tiefer, kalter Stimme. „Wenn ihr noch einen Schuss abgefeuert habt, gehen wir alle zusammen unter.“ Die Piraten zögerten. Der Mann mit dem Megafon bellte einen Befehl. Das Boot verlangsamte – nur ein wenig. Genug, um zu zeigen, dass sie es erwogen.

Ethan senkte die Waffe nicht. „Liam, hol den Notsender aus dem Schrank.“

Liam beeilte sich, zu gehorchen. „Der erreicht hier niemanden mehr …“

„Tu es trotzdem“, schnauzte Ethan. Das schwache blaue Licht des Senders blinkte auf und sandte einen digitalen Impuls in die Leere. Ein Versuch ins Blaue – aber besser als gar keiner. Das Piratenboot hielt in einiger Entfernung, die Motoren liefen im Leerlauf. Die Männer stritten sich jetzt und schrien durcheinander. Ethan hielt sein Ziel ruhig, sein Herz hämmerte in seinen Ohren.

Dann, irgendwo weit hinter dem Horizont, ein leises Summen – erst leise, dann lauter. Liam drehte sich abrupt um. „Hörst du das?“

Ethan hörte es. Motoren. Größere.

Die Piraten hörten es auch.

Sie blickten auf, ihre Gesichtsausdrücke wechselten von Wut zu Alarm. Der Anführer bellte etwas Schnelles und gab seinen Männern ein Zeichen, sich zu bewegen. Das Boot wendete scharf und raste hinaus aufs offene Meer.

Liam starrte ihnen nach. „Sie fahren weg.“

Ethan blieb unruhig. „Nicht mehr lange.“

Er folgte ihnen mit dem Fernglas – und sah die schwache Silhouette eines großen Schiffes, das schnell näher kam, dessen Lichter rot und blau gegen die Morgendämmerung blinkten.

Die Küstenwache. Endlich.

Liam lachte nervös auf, halb ungläubig, halb erleichtert. „Sie haben uns gefunden.“

Ethan senkte das Fernglas. „Nein“, sagte er leise. „Wir haben sie gefunden.“

Er wandte sich dem Horizont zu, wo das erste volle Morgenlicht über die Wellen fiel. Der Albtraum war noch nicht vorbei – aber das Blatt hatte sich gewendet.

Und Ethan Calder war nicht der Typ Mann, der eine zweite Chance vergeuden würde.

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