Kapitel 4: Schatten am Horizont

Die Aurora’s Wake ächzte erschöpft. Ihr von Kugeln und Salz gezeichneter Rumpf hob und senkte sich mit jeder anschwellenden Welle wie ein verwundetes Tier, das nach Luft schnappt. Die Morgensonne hing tief hinter einem Dunstschleier und tauchte den Ozean in matte Gold- und Eisengrautöne. Ethans Hände zitterten leicht am Steuerrad – nicht aus Angst, sondern vom Adrenalinschub nach stundenlangem Überleben, das allein auf seinen Instinkt zurückgeführt wurde.
Hinter ihm kauerte Liam nahe dem Heck, sein Gesicht blass und eingefallen. Seine Knöchel waren weiß vom Umklammern des Geländers. Er sah aus, als sei er über Nacht um zehn Jahre gealtert.
„Sie sind weg“, sagte Liam, kaum hörbar über das Rauschen des Windes.
Ethan antwortete nicht. Sein Blick war auf den Horizont gerichtet, wo die schwache Silhouette des Piratenschiffs zuletzt verschwunden war. „Weg heißt nicht sicher“, sagte er leise. „Die kommen wieder, sobald sie herausgefunden haben, was schiefgelaufen ist.“ Liam runzelte die Stirn und kniff die Augen zusammen, als er auf die endlose Weite des Wassers starrte. „Warum geben die nicht einfach auf? Die wissen doch, dass die Küstenwache kommt.“ Ethan lachte trocken und humorlos auf. „Glaubst du, solche Typen scheren sich um die Küstenwache? Die waren wahrscheinlich schon ein halbes Dutzend Mal im Gefängnis. Das Meer birgt so einiges an Geheimnissen – und so einiges an Gesetzen.“ Der Jüngere verstummte. Er hatte sein Leben lang Korallenriffe und Wasserproben untersucht, nicht die Art von Leuten, die an den undurchsichtigen Grenzen der Seewege herrschten. Er glaubte immer noch an Ordnung und Systematik. Ethan hingegen hatte zu viel Chaos erlebt, um sich auf eines von beidem verlassen zu können.
„Hilf mir, den Schaden zu begutachten“, sagte Ethan schließlich und trat vom Steuerrad zurück. Gemeinsam gingen sie über Deck und begutachteten die Verwüstung. Zersplittertes Holz, Löcher im Geländer und eine zerbrochene Leuchte am Heck. Liam hockte sich hin, um die Einschusslöcher zu untersuchen. „Sie haben uns um Haaresbreite verfehlt.“
„Sie wollten uns nicht verfehlen“, erwiderte Ethan grimmig. „Sie wollten uns Angst einjagen.“ Er hielt inne und presste die Hand gegen die Kabinenwand. „Und das haben sie geschafft.“ Liam atmete zitternd aus. „Ich dachte, ich würde sterben, Ethan. Ich dachte wirklich –“ Ethan unterbrach ihn mit einer erhobenen Hand. „Das hast du nicht. Darauf kommt es an. Jetzt sorgen wir dafür, dass es so bleibt.“
Eine Stunde verging, bevor einer von ihnen wieder sprach. Sie hatten jedes Fach durchsucht, notdürftig repariert und die kaputte Funkantenne durch einen provisorischen Stab ersetzt, den Liam aus einem Metallträger gefertigt hatte. Sie war nicht perfekt, aber sie könnte ihnen Kontakt verschaffen. Das Meer hatte sich etwas beruhigt, seine Oberfläche schimmerte in trügerischer Ruhe. Möwen kreisten in der Ferne – ein Zeichen von Land oder vielleicht von etwas, das in der Nähe trieb. Ethan drehte vorsichtig am Radioknopf. Das Rauschen zischte wie weißes Feuer und wechselte zwischen verschiedenen Frequenzen. „Los … nur ein klares Signal“, murmelte er.
Dann – Knistern. Eine Stimme, schwach, aber real.
„… Küstenwache Patrouille 72 … wiederholt Notruffrequenz … bitte antworten.“
Liams Kopf schnellte hoch. „Das sind sie!“
Ethan drehte am Regler und passte die Lautstärke an. „Hier spricht Aurora’s Wake! Koordinaten …“ Er warf einen Blick auf den Kompass, dann auf seinen Navigationsbildschirm. „43 Grad Nord, 72 Grad West. Wir werden beschädigt. Feindliche Boote im Gebiet.“
Das Rauschen verschluckte einen Teil der Nachricht. Dann eine klare Antwort:
„Verstanden, Aurora’s Wake. Bleiben Sie an Ort und Stelle. Wir haben Ihr Signal. Voraussichtliche Ankunft: 45 Minuten.“
Liam sank erleichtert zusammen. „45 Minuten. Wir müssen nur noch durchhalten.“
Ethan nickte langsam. „Ja. 45 Minuten.“ Doch sein Tonfall klang alles andere als tröstlich. Er war lange genug auf See gewesen, um zu wissen, was fünfundvierzig Minuten bedeuteten – es war eine Ewigkeit.
Der Himmel verdunkelte sich erneut, als eine Kaltfront aufzog. Der Wind frischte auf und riss das Meer in unruhige Bewegung. Ethan justierte die Segel, sein Instinkt war geweckt. Die Wellen änderten ihre Richtung schneller, als der Sturm es hergab. Es war nicht die Natur – es war die Seegangsstörung.
Er griff nach dem Fernglas und suchte den Horizont ab. Ihm wurde mulmig zumute.
Zwei schwarze Punkte – diesmal kleiner, aber sie bewegten sich schnell.
„Verdammt“, flüsterte er. Liam bemerkte seinen Gesichtsausdruck. „Was ist los?“
„Sie sind zurück.“ Liam wurde kreidebleich. „Nein … wir haben doch nur … Ethan, sie sagten fünfundvierzig Minuten!“
„Und das war vor zehn Minuten“, erwiderte Ethan kühl. „Wir sind auf uns allein gestellt, bis sie auftauchen.“ Er senkte das Fernglas und holte tief Luft, während er fieberhaft nachdachte. „Sie werden nicht gleich wieder an Bord gehen. Sie werden versuchen, uns zuerst kampfunfähig zu machen.“
„Was sollen wir tun?“ Ethans Blick huschte über das Deck, er überlegte angestrengt. Dann sah er die neben der Kabine gestapelten Treibstoffkanister an. „Wir nutzen, was wir haben.“
Er riss eine der kleineren Dosen auf und schüttete ihren Inhalt in einen Metalleimer. Der stechende Geruch von Benzin lag in der Luft. Liams Augen weiteten sich. „Was machst du da?“
„Ich stelle eine Falle“, sagte Ethan. Er griff nach einem Lappen, band ihn an das Ende einer abgebrochenen Stange und tauchte ihn in den Benzingeruch. Dann sah er Liam an. „Hast du die Signalpistole noch?“
Liam zögerte. „Das kann doch nicht dein Ernst sein …“
„Doch, im Ernst“, unterbrach ihn Ethan. „Wenn sie zu nah kommen, zünden wir sie. Dann überlegen sie es sich zweimal, bevor sie wieder kreisen.“ Liam schluckte schwer. Seine Hände zitterten, als er ihm die Signalpistole reichte. „Du bist verrückt.“
Ethan grinste leicht. „Deshalb lebe ich noch.“
Die Piratenboote kamen näher. Diesmal waren es mehr – drei, vielleicht vier. Ethan konnte es durch den Dunst nicht genau erkennen. Sie bewegten sich in einem langsamen Bogen und bildeten einen Halbkreis um die Aurora’s Wake.
Liam flüsterte: „Sie umzingeln uns.“
Ethan zündete den getränkten Lappen an. Die Flamme loderte hellorange und wütend auf dem grauen Meer auf. Er hob sie hoch, damit sie sie gut sehen konnten. „Lasst uns ihnen zeigen, dass wir keine leichte Beute sind.“
Eines der Piratenboote verlangsamte die Fahrt. Ein Mann stand am Bug. Seine Stimme hallte durch ein Megafon über das Wasser. „Boot anhalten! Wir reden!“
Ethans Lachen war trocken wie Salz. „Reden? Deine Chance hattest du.“
Der Pirat rief etwas in einer anderen Sprache und bellte dann einen Befehl. Der Motor heulte lauter auf.
Ethan zögerte nicht. Er hob die Leuchtpistole, zielte auf das Wasser neben ihrem Führungsboot und feuerte.
Die Leuchtrakete zischte, als sie auf die Wasseroberfläche traf und den dünnen Benzinfilm entzündete, den Ethan zuvor ausgegossen hatte. Zwischen den beiden Schiffen brach eine Flammenwand empor. Die Piraten zuckten erschrocken zurück und schrien auf, als die Hitze sie erfasste.
Liam starrte fassungslos. „Heilige Scheiße …“ Ethans Gesichtsausdruck war grimmig, konzentriert. „Feuer ist eine Sprache, die jeder versteht.“
Die Piratenboote wichen aus und kreisten in größerem Abstand, um den Flammen zu entgehen. Das verschaffte ihnen Zeit – aber nicht genug. Das Benzin verbrannte schnell, und innerhalb weniger Minuten verschlang das Meer das Feuer wieder in Dunkelheit.
„Sie werden es wieder versuchen“, murmelte Ethan. Liam klammerte sich an die Reling. „Was, wenn die Küstenwache nicht rechtzeitig kommt?“
Ethan blickte mit steinhartem Blick über die Wellen. „Dann machen wir es auf unsere Art.“
Minuten zogen sich wie Stunden. Die Piraten sammelten sich und bildeten eine engere Formation. Sie hatten es jetzt nicht eilig – sie warteten auf etwas. Ethan spürte es. Die Stille vor dem Angriff.
Und dann sah er es. Ein größeres Schiff tauchte aus dem Nebel auf – ein verrosteter, schwarz gestrichener Trawler, dessen Deck von Männern besetzt war. Es war nicht schnell, aber mächtig. Das Mutterschiff der Piraten.
Liams Stimme versagte. „Dagegen können wir nicht ankommen!“
Ethan knirschte mit den Zähnen. „Wir kämpfen nicht. Wir überleben.“
Er stürmte unter Deck und riss den Notfallkoffer auf. Darin befand sich ein einzelner wasserdichter Koffer mit der Aufschrift „Signal – Hohe Priorität“. Er öffnete ihn und enthüllte einen kleinen experimentellen Notsender – einen Prototyp, den Liam für die Tiefseeforschung getestet hatte.
Liam blinzelte. „Der ist noch nicht einsatzbereit …“
„Er muss nicht einsatzbereit sein“, sagte Ethan. „Er muss nur einmal funktionieren.“
Er schaltete ihn ein. Das Gerät summte leise, ein schwaches grünes Licht blinkte.
„Welche Frequenz?“, fragte Ethan. Liam zögerte. „Militärfunk. Die Reichweite ist größer als bei zivilen Funkgeräten … aber wenn er ausfällt …“
„Dann zerstören wir das Signal“, sagte Ethan. „Das Risiko ist es wert.“
Der Trawler kam näher, seine Motoren dröhnten wie Donner. Kleinere Boote flankierten ihn und schnitten ihm jeden Fluchtweg ab.
Ethan aktivierte den Sender. Die Luft vibrierte leicht von statischem Rauschen. „Los, los …“
Das grüne Licht blinkte schneller – dann wurde es rot. Störgeräusche erfüllten die Kabine.
„Es stört“, sagte Liam. „Sie blockieren uns.“
Ethans Gesicht verhärtete sich. „Dann werden sie es bereuen.“
Er drehte sich um und griff wieder nach der Signalpistole. Der letzten. „Geht unter Deck und bleibt dort.“
Liams Augen weiteten sich. „Ethan –“
„Sofort.“
Der junge Mann gehorchte und duckte sich außer Sichtweite. Ethan stand allein an Deck, der Meereswind pfiff ihm durchs Haar, den Blick fest auf das herannahende Schiff gerichtet.
Er hob die Leuchtpistole, zielte auf den Treibstofftank des Trawlers und flüsterte: „Du hast dir das falsche Boot ausgesucht.“
Dann feuerte er.
Die Leuchtrakete zischte über den grauen Himmel, ein brennender Komet, der sich auf den Feind zubewegte.
Einen Herzschlag lang herrschte Stille – dann erhellte ein blendender Blitz den Horizont, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Knall.
Als sich der Rauch verzogen hatte, brannte der Trawler.
Und Auroras Kielwasser trieb in seinem Schatten, schwer beschädigt, aber noch am Leben.