Kapitel 5: Die Folgen des Brandes

Die Welt war in Rauch und Asche gehüllt.
Einen langen Moment lang konnte Ethan nicht erkennen, wo der Horizont endete und das Meer begann. Das Echo der Explosion hallte noch immer wie ferner Donner über die Wellen und verebbte langsam in einer schweren, erdrückenden Stille. Der Trawler – das Mutterschiff der Piraten – war nun halb von Flammen verschluckt, sein geschwärzter Rumpf sank ungleichmäßig in die aufgewühlten Fluten.
Er stand am Bug der Aurora’s Wake, umklammerte mit einer Hand das Geländer, in der anderen hielt er die noch warme Leuchtpistole. Seine Brust hob und senkte sich mit jedem Atemzug. Salz, Ruß und Adrenalin brannten in seinen Lungen. Der stechende Geruch von verbranntem Treibstoff hing überall.
Unter Deck stolperte Liam hustend die Stufen hinauf. „Ethan –“ Ethan drehte sich abrupt um, sein Gesichtsausdruck hart und berechnend. „Alles okay?“
„Ich – ja, ich glaube schon.“ Liams Augen weiteten sich, als er das ferne Inferno erblickte. „Oh mein Gott … hast du – hast du das getan?“
Ethan antwortete nicht sofort. Sein Blick ruhte auf dem Trawler, er sah zu, wie die Flammen höher schlugen. Die Männer an Bord gerieten in Panik, einige sprangen ins Meer. Es war keine Genugtuung, die ihn erfüllte – nur eine düstere, schwere Erleichterung.
„Sie hätten uns getötet“, sagte Ethan schließlich. Liam folgte seinem Blick, seine Stimme zitterte. „Du … hast sie in die Luft gesprengt.“
„Sie ließen mir keine Wahl.“ Eine Weile sprachen beide nicht. Das einzige Geräusch war das leise Rauschen des Ozeans, der das Wrack zurückspülte. Das Feuer begann zu erlöschen, Rauch stieg auf wie eine Leuchtrakete zu den Göttern. Liam sank auf die Knie, seine Gedanken rasten. „Wir müssen ihnen helfen“, sagte er plötzlich. Ethan drehte sich abrupt um. „Was?“
„Es sind immer noch Menschen, Ethan! Sie ertrinken!“
„Das sind Piraten“, erwiderte Ethan mit tiefer, knurrender Stimme. „Die würden nicht zögern, dir eine Kugel in den Kopf zu jagen.“
Liam schüttelte entsetzt den Kopf. „Du kannst sie doch nicht einfach sterben lassen!“
Ethans Kiefer verkrampfte sich. „Wir sind keine Retter. Wir sind Überlebende.“
Liam wollte erneut protestieren – doch dann sah er den Blick in Ethans Augen. Es war keine Grausamkeit. Es war Erschöpfung. Eine tiefe, nagende Müdigkeit, die von zu vielen Kämpfen wie diesem herrührte.
Minuten später setzten sie ihre Fahrt fort. Der Hilfsmotor hustete ein letztes Mal schwach, aber gehorsam zum Leben. Die Aurora’s Wake drehte langsam, den Bug vom brennenden Wrack weg.
Ethan stand am Steuer, die Hände ruhig, aber blass. „Wir fahren nach Nordosten“, sagte er. „Wenn die Küstenwache unserem Signal folgt, werden sie uns dort finden.“
Liam nickte stumm, noch immer erschüttert. Sein Blick verweilte auf dem schwarzen Rauch, der sich in den Himmel erhob. „Glaubst du, sie haben die Explosion gesehen?“
„Sie werden sie sehen“, sagte Ethan. „Sie müssten blind sein, um sie nicht zu sehen.“ Er warf einen erneuten Blick auf den Kompass und korrigierte den Kurs. Der Wind hatte gedreht und trug den Geruch von verbranntem Öl über die Wellen. Jede Böe schien von dem zu flüstern, wovon sie entkommen waren – und was es sie gekostet hatte.
Nach einer Weile sprach Liam wieder. „Du hast das schon mal gemacht, nicht wahr?“ Ethan sah ihn nicht an. „Was gemacht?“
„Zurückgeschlagen. Überlebt. Solche Sachen.“ Ethans Lippen zuckten zu etwas, das kein richtiges Lächeln war. „Ein- oder zweimal.“
„Du warst bei der Marine, nicht wahr?“
„Küstenwache“, korrigierte Ethan. „Vor langer Zeit.“ Liam zögerte und musterte ihn. „Du hast gekündigt?“ Ethans Hände umklammerten das Lenkrad fester. „Nicht gekündigt. Ich bin gegangen, als mir klar wurde, dass ich die falschen Leute rettete.“ Liam runzelte die Stirn, er verstand nicht – aber Ethan erklärte nichts weiter. Der Blick des alten Seemanns blieb am Horizont hängen, seine Gedanken schweiften weit darüber hinaus.
Eine Stunde verging. Das Feuer am Horizont war zu einem schwachen orangefarbenen Fleck verblasst, verschluckt von der Ferne und dem Seenebel. Der Ozean war wieder unheimlich ruhig, als wäre nichts geschehen.
Dann, leise, über dem Brummen des schwachen Motors – ein anderes Geräusch. Liam hob den Kopf. „Hörst du das?“ Ethan erstarrte und lauschte. Ein tiefes, rhythmisches Poltern. Rotorblätter.
Er blickte auf. Eine dunkle Gestalt schnitt über den Himmel – tief, schnell, gleichmäßig. Ein Hubschrauber. Liams Augen weiteten sich. „Sie sind es!“ Ethan griff nach einer Leuchtrakete aus dem Notfallkasten und schoss sie in den Himmel. Der rote Lichtstreifen spannte sich über dem Boot und leuchtete in hellen Farben auf. Der Hubschrauber legte sich scharf in die Kurve und drehte auf sie zu.
Eine Stimme knisterte durch den Funk: „Aurora’s Wake, hier spricht die Küstenwache, Luftstaffel 27. Wir haben Ihre Position. Halten Sie an Ort und Stelle.“
Liam lachte ungläubig laut auf. „Wir sind gerettet!“
Ethans Schultern sanken leicht, Erleichterung brach aus seiner stoischen Maske hervor. „Hat ja lange genug gedauert.“
Er drosselte den Motor und wartete. Der Hubschrauber schwebte über ihnen und ein Windstoß strich über das Deck. Ein Lautsprecher knisterte. „Ist jemand verletzt?“
Liam griff zum Funkmikrofon. „Uns geht’s gut! Nur etwas mitgenommen!“
„Verstanden“, kam die Antwort. „Das Rettungsschiff ist in zehn Minuten da. Bleiben Sie an Ort und Stelle.“
Liam wandte sich an Ethan und grinste zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit. „Wir haben es geschafft.“
Ethan antwortete nicht sofort. Sein Blick wanderte zurück zum schwachen Rauch in der Ferne. „Vielleicht“, sagte er leise. „Aber es ist noch nicht vorbei.“
Das Rettungsboot traf wie versprochen ein – ein weiß-roter Kutter, der mühelos durch die Wellen glitt. Zwei bewaffnete Offiziere standen am Bug, als es längsseits der Aurora’s Wake anlegte.
„Erlaubnis an Bord!“, rief einer von ihnen.
Ethan nickte. „Erteilt.“
Sie warfen ein Seil zu und kletterten hinauf, ihre Uniformen tadellos und ihre Gesichter wachsam. Der Ältere der beiden, ein Kommandant, wie sein Abzeichen vermuten ließ, musterte Ethan scharf. „Sie sind Ethan Calder?“
„Genau.“
„Wir haben Ihren Notruf und Ihr Signal empfangen. Was ist hier passiert?“ Ethan atmete langsam aus. „Piraten. Vier kleine Boote, ein Trawler. Sie griffen gegen 2 Uhr morgens an. Wir verteidigten uns. Der Trawler ist weg.“ Die Augen des Kommandanten blitzten überrascht auf. „Weg?“
„Verbrannt. Gesunken“, sagte Ethan emotionslos.
Der jüngere Offizier trat vor, sichtlich skeptisch. „Und Sie erwarten von uns, dass wir Ihnen glauben, zwei Zivilisten hätten eine ganze Bande bewaffneter Plünderer ausgeschaltet?“
Ethans Blick war eiskalt. „Glauben Sie, was Sie wollen. Wir leben, sie nicht. Das ist die Wahrheit.“
Der Kommandant hob die Hand und brachte seinen Partner zum Schweigen. „Wir werden Ihren Bericht bestätigen. Vorerst sind Sie in Sicherheit. Wir schleppen Sie an Land.“
Er sah an Ethan vorbei zu Liam, der vom Türrahmen der Kabine aus zusah. „Alles in Ordnung, Junge?“
Liam nickte zitternd. „Nur müde. Und hungrig.“
„Verständlich“, sagte der Kommandant freundlich. „Sie haben die Hölle durchgemacht.“
Ethan lachte kurz und bitter auf. „In der Hölle ist das Wetter besser.“
Während das Kutter eine Leine zum Abschleppen befestigte, setzte sich Liam neben Ethan an Deck. Der Blick des Jüngeren war abwesend, er verarbeitete noch immer alles, was geschehen war.
„Gewöhnt man sich jemals daran?“, fragte er.
Ethan sah ihn an. „Woran denn?“
„An die Angst. An die Gewalt. Daran, wie sich Menschen verändern, wenn etwas schiefgeht.“
Ethan schwieg einen Moment. „Man gewöhnt sich nicht daran“, sagte er schließlich. „Man lernt nur, damit umzugehen.“
Die Wellen plätscherten sanft gegen den Rumpf. Das Morgenlicht brach nun in seiner vollen Pracht hervor und tauchte das Meer in goldenes Licht. Der Albtraum der Nacht fühlte sich an wie eine andere Welt – doch seine Schatten blieben, tief und still.
Liam lehnte sich zurück und schloss die Augen. „Glaubst du, irgendjemand wird dir glauben, was passiert ist?“
Ethans Blick schweifte ein letztes Mal zum fernen schwarzen Rauch. „Ist egal“, sagte er. „Wir werden es.“
Zum ersten Mal seit Beginn der Tortur atmete Ethan auf – nicht nur den mechanischen Rhythmus des Überlebens, sondern den tiefen, menschlichen Atem, der Wärme statt Angst in sich trug. Der Ozean erstreckte sich endlos vor ihnen, wieder weit und klar. Die Aurora’s Wake bewegte sich langsam vorwärts, an ihre Rettung gefesselt, und hinterließ eine Spur aus Rauch, Salz und Geistern.
Und irgendwo jenseits des Horizonts hütete das Meer seine Geheimnisse – wartend auf die nächste Seele, mutig oder töricht genug, sie zu ergründen.