Kapitel 6: Das Gewicht der Wahrheit

Die Aurora’s Wake glitt sanft durch das kräuselnde Wasser, festgemacht an dem Küstenwachenschiff, das sie in Richtung Hafen geleitete. Die Sonne war höher gestiegen und hatte den Morgennebel vertrieben, doch Ethan erschien die Welt immer noch grau. Der stechende Dieselgeruch aus dem Auspuff des Schiffes vermischte sich mit dem schwachen Rauch, der sich am Horizont entlangzog – die letzte Erinnerung an den brennenden Trawler.
Ethan stand am Bug, die Arme verschränkt, den Blick auf den schwarzen Fleck in der Ferne gerichtet. Er wurde minütlich schwächer und verschwand in den Wellen, doch er konnte den Blick nicht abwenden. Jedes Mal, wenn er blinzelte, sah er die Gesichter – flüchtige Schatten im Feuerschein, Männer, die sich für Gewalt entschieden und ihre Folgen getragen hatten.
Hinter ihm saß Liam zusammengesunken nahe der Kajüte, in eine Decke gehüllt, die ihm einer der Sanitäter der Küstenwache gegeben hatte. Sein Gesicht war blass und eingefallen, die Augen hohl vom Schlafmangel. Als er sprach, war seine Stimme dünn.
„Glaubst du, sie werden uns glauben?“ Ethan drehte den Kopf leicht. „Das werden sie wohl müssen.“ Liam lachte humorlos. „Das klingt ja wie eine Drohung.“ Ethan lächelte nicht. „Manchmal muss es das auch sein.“ Der Jüngere zögerte, dann senkte er die Stimme. „Du hast gesagt, du warst mal bei der Küstenwache. Du weißt, wie die ticken. Wenn sie anfangen, Fragen zu stellen – was passiert ist, was die Explosion war –, was wirst du ihnen dann sagen?“ Ethans Blick blieb auf den Horizont gerichtet. „Die Wahrheit.“ Liam runzelte die Stirn. „Die Wahrheit? Oder das, was sie hören wollen?“ Ethan drehte sich schließlich um und sah ihm in die Augen. „Das ist nicht immer dasselbe.“
Als sie den Hafen erreichten, hatte sich eine kleine Menschenmenge am Kai versammelt – Beamte, Sanitäter und Männer in dunklen Uniformen mit Bundesabzeichen. Die Sorte Mensch, die man nicht bei Routineeinsätzen erwartete. Das Patrouillenboot legte längsseits an, und ein Offizier bedeutete Ethan und Liam, von Bord zu gehen. „Wir müssen Sie beide noch befragen“, sagte er höflich, aber bestimmt.
Ethan half Liam die Gangway hinunter, ihre Stiefel klapperten auf der Metallrampe. Der Geruch von Öl, Seilen und Seetang lag schwer in der Luft. Das Dock erstreckte sich wie eine Narbe über das ruhige Wasser, seine Holzplanken knarrten unter ihrem Gewicht.
Sie wurden zu einem provisorischen Einsatzzelt in der Nähe der Hafeneinfahrt geleitet. Drinnen saßen zwei Offiziere hinter einem Klapptisch, der mit Seekarten, Berichten und halb leeren Kaffeetassen übersät war. Der Größere der beiden stellte sich vor. „Commander Rhodes, Maritime Operationen. Das ist Agent Kline vom Heimatschutzministerium.“
Liam warf Ethan einen Blick zu. Heimatschutzministerium?
Ethans Kiefer verkrampfte sich. „Mir war nicht bewusst, dass dies ein Fall für die Bundesbehörden ist.“
„Normalerweise wäre es das nicht“, sagte Kline und schlug eine Akte auf. „Aber Ihr Bericht hat uns stutzig gemacht. Die Piratenaktivitäten in dieser Region sind … ungewöhnlich. Wir versuchen, ein Muster zu erkennen.“ „Ein Muster?“, fragte Ethan.
Kline nickte. „Das waren keine zufälligen Angreifer, Captain Calder. Der Trawler, den Sie zerstört haben? Er war in keinem Schiffsregister eingetragen. Wir haben seine Markierungen überprüft – gefälscht. Aber die Rumpfidentifikationsnummern führen zu einem außer Dienst gestellten Forschungsschiff aus Lagos.“
Liam blinzelte. „Ein Forschungsschiff? Sie meinen so etwas wie …“
„So etwas wie Ihres“, beendete Kline seinen Satz. „Die Aurora’s Wake ist nicht das einzige kleine Schiff, das hier in letzter Zeit verschwunden ist.“
Ethan beugte sich vor, sein Ton wurde schärfer. „Sie wussten also von den Angriffen in diesem Sektor und haben keine Warnung herausgegeben?“
Rhodes wirkte unbehaglich. „Wir hatten Berichte, keine Beweise. Wenn wir es gewusst hätten …“
Ethan unterbrach ihn. „Sie hätten nichts anders gemacht.“
Kline ignorierte den Seitenhieb und blätterte zu einer anderen Seite. „Ihrer Aussage zufolge haben Sie eine Leuchtrakete abgefeuert, die den Treibstofftank des Piratentrawlers entzündet hat. Stimmt das?“
„Ja.“
„Sie verstehen, dass dies ein Akt tödlicher Gewalt auf offener See war.“ Ethan sah ihm furchtlos in die Augen. „Und wenn ich nicht abgedrückt hätte, würden Sie jetzt unsere Leichen aus den Wellen ziehen.“
Lange Zeit herrschte Stille. Das leise Summen der Generatoren draußen erfüllte die Stille.
Dann räusperte sich Rhodes. „Wir sind nicht hier, um Anschuldigungen zu erheben, Captain. Wir brauchen lediglich den genauen Hergang.“ Liam beugte sich plötzlich vor, seine Fassung brach. „Er hat mir das Leben gerettet! Uns beiden! Diese Männer wollten uns umbringen, und Sie sitzen hier und reden über Verfahrensweisen?“
Klines Ton wurde etwas milder. „Das bestreitet niemand. Aber wenn das, was Sie sagen, stimmt, müssen wir wissen, wer sie bewaffnet und wer sie geschickt hat.“
Ethan atmete langsam aus. „Glaubst du, sie haben für jemanden gearbeitet?“
„Wir glauben, dass sie jemand beliefert“, sagte Kline. „Diese Gewehre waren kein Schrott. Sie waren von militärischer Qualität.“ Liam rieb sich die Schläfen. „Du meinst also, das ist noch nicht vorbei?“ Ethans Augen verfinsterten sich. „Das war es nie.“
Sie wurden Stunden später freigelassen. Die Sonne begann wieder unterzugehen und tauchte die Docks in bernsteinfarbenes Licht. Die Aurora’s Wake lag am anderen Ende vor Anker, ihr Rumpf geflickt und zerkratzt, die Segel fest eingerollt. Sie wirkte klein vor dem endlosen Horizont – zerbrechlich, aber trotzig.
Liam ging schweigend neben Ethan her. Der Kopf des Jüngeren war voller Geräusche – Schüsse, Rauch, aufheulende Motoren –, aber nichts davon fühlte sich mehr real an.
Schließlich durchbrach er die Stille. „Was passiert jetzt?“
Ethans Blick ruhte auf dem Boot. „Sie schreiben ihre Berichte. Reichen ihre Unterlagen ein. Und fahren zum nächsten Sturm.“
„Und wir?“
Ethans Stimme war nun leiser. „Wir tun, was Seeleute immer tun.“
„Und das?“
„Die Schäden beheben. Und wieder in See stechen.“
Liam blieb stehen. „Das kannst du nicht ernst meinen. Nach allem, was passiert ist? Wir wären da draußen fast ertrunken.“
Ethan drehte sich zu ihm um. „So ist das Meer. Es kümmert sich nicht um ein ‚fast‘.“
Liam wandte frustriert den Blick ab. „Du klingst, als wolltest du zurück.“
Ethans Lippen zuckten leicht, doch Freude lag nicht darin. „Das Meer lässt dich nicht los. Hat es erst einmal deine Seele, lässt es sie nicht mehr los.“
Liam starrte ihn an, unsicher, ob Wahnsinn oder Weisheit zu ihm sprach. „Ich glaube, du bist süchtig nach Gefahr.“
„Vielleicht“, sagte Ethan. „Oder vielleicht ist die Gefahr süchtig nach mir.“
In dieser Nacht, als die Lichter des Hafens flackerten, konnte Liam nicht schlafen. Er stand auf dem Dock und beobachtete die sanfte Bewegung der Aurora’s Wake. Das Meer plätscherte leise gegen das Holz, rhythmisch, fast beruhigend. Doch unter dieser Stille spürte er noch immer den Puls von etwas Dunklerem – die Erinnerung an die Jagd, die Schreie, das Feuer.
Er dachte an Ethan – die stille Intensität in seinen Augen, die Art, wie er dem Unmöglichen furchtlos entgegengetreten war. Ein Teil von Liam beneidete ihn um diese Stärke; ein anderer Teil fürchtete sie.
Hinter ihm näherten sich Schritte. Ethan, mit zwei Tassen schwarzem Kaffee in der Hand. „Kannst du auch nicht schlafen?“
Liam schüttelte den Kopf. „Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, höre ich die Motoren.“
Ethan reichte ihm eine Tasse. „Irgendwann verschwinden sie. Der Lärm. Die Angst.“
Wirklich?
Ethan blickte zum Horizont, wo das Meer auf den sternenklaren Himmel traf. „Nein. Man lernt nur, damit zu leben.“
Sie standen lange nebeneinander, das Meer atmete unter ihnen.
Schließlich sprach Liam. „Glaubst du, es ist wirklich vorbei?“
Ethans Antwort kam langsam, wie eine hereinbrechende Flut. „Nein. Das Meer vergisst nie. Und die Männer auch nicht, die ihm unterliegen.“
Er nahm einen langen Schluck Kaffee, sein Blick war abwesend. „Aber wenn sie wiederkommen – und das werden sie –, werden wir bereit sein.“ Liam starrte ihn an und begriff, dass Ethan Calder nicht einfach nur ein Seemann war. Er war etwas ganz anderes – ein Teil des Ozeans selbst, von ihm geformt, von seinen Stürmen gestählt.
Und während der Nachtwind das Rauschen ferner Wellen herbeitrug, spürte Liam eine seltsame Gewissheit in seiner Brust. Ihre Geschichte war nicht zu Ende. Sie änderte nur ihren Verlauf. Die Aurora’s Wake wiegte sich sanft an ihren Ankerplätzen, ihre Segel flüsterten in der Dunkelheit – als ob das Meer selbst zuhörte.